Der blutige Untergang Jugoslawiens
Eine Analyse des Untergangs Jugoslawiens: Von den Anfängen dews Konflikts bis zum Prozess und Tod von Milosevic
I. Ablehnung von schwarz-weiss-malenden Ansätzen, die insgesamt falsch sind
Slobodan Milosevic wurde in der vorherrschenden Meinung– insbesondere
durch die Chefanklägerin Carla del Ponte, die vor dem Strafgerichtshof
für das frühere Jugoslawien in Den Haag die Anklage vertrat – als
„Schlächter des Balkan“ hingestellt, als wichtigster
Verantwortungsträger für die Konflikte, Kriege und ethnischen
Säuberungen, die die Zerstörung Jugoslawiens begleitet haben:Milosevic
soll eine Politik eines „ethnisch reinen Großserbiens“ vertreten haben,
die im Zentrum der Gewalttätigkeiten der neunziger Jahre gelegen und
Ursache von praktizierten Genoziden gewesen sein soll.
Milosevics Verteidiger lehnten diese Thesen als Beschimpfungen ab und
stellten ihn als Widerständler gegen eine imperialistische Weltordnung
und gegen die Zerstörung Jugoslawiens hin, die von den anderen
nationalistischen und antikommunistischen Strömungen gewollt gewesen
sei; diese hätten sich bewaffnet und seien von den Großmächten, die das
sozialistische Jugoslawien hätten zerstören wollen, für ihre Zwecke
eingespannt worden. Die lügnerischen Kampagnen der Verteufelung des
„serbischen Kommunismus“ hätten der geplanten bewaffneten Intervention
der NATO gegen Jugoslawien (Serbien-Montenegro) und der Anklage von
Milosevic vor dem Strafgerichtshof, der nur das juristische Instrument
dieser besonders von den USA durchgeführten Kampagnen sei, den Boden
bereitet.
In beiden Ansätzen sind Elemente der Wahrheit vorhanden, ohne die sie
keine Wirkung hätten entfalten können. Doch auf globaler Ebene sind
beide falsch in dem Sinne, dass sie beide entscheidende Elemente der
Politik des Belgrader Führers – und der Großmächte verhüllen. Wenn man
diese Elemente nicht in die Überlegungen mit einbezieht, versteht man
das Fiasko des Milosevic-Prozesses nicht. Das Fiasko der These, die die
Chefanklägerin beweisen wollte, dass nämlich Milosevic eine Politik
eines Großserbiens betrieben habe, die die im Verlauf des Jahrzehnts im
Kosovo und in Bosnien durchgeführten ethnischen Säuberungen propagiert
habe. Doch es war auch ein Fiasko für Milosevics Verteidiger, die
völlig unfähig waren, aus seinem Prozess eine Tribüne des Widerstands
gegen den Kapitalismus, gegen den Imperialismus und in einem realen
internationalistischen Sinn für „Jugoslawien“ zu machen – denn dieses
war überhaupt nicht die Orientierung von Milosevic.
Um seine Rolle in den großen Konflikten der jugoslawischen Krise
(Kosovo, serbisch-kroatischer Konflikt und vor allem im Krieg der
„ethnischen Säuberung“ in Bosnien) verstehen zu können, muss man die
Analyse um Elemente ergänzen, die in den beiden Thesen völlig
ausgespart werden.
-Seit Ende der achtziger Jahre befand sich das Milosevic-Regime in
vollem sozio-ökonomischen Wandel; die in Serbien unter dem
Milosevic-Regime beschlossenen Gesetze zur Änderung des Eigentums
unterscheiden sich qualitativ nicht von denen, die in den neunziger
Jahren (bei einigem Widerstand gegen die ultraliberalen Rezepte) im
benachbarten Slowenien umgesetzt wurden, das heute Mitglied der EU ist.
Es waren der Krieg und die Sanktionen, und eben nicht gesellschaftliche
Entscheidungen gegen Privatisierungen, die den Prozess der
Privatisierungen verlangsamt haben. Das Etikett „sozialistisch“
bedeutete in Serbien genauso wenig wie in Polen, Ungarn oder Albanien,
sich gegen die Logik der Privatisierungen zu wenden.
Aus diesem Grund war Milosevic weder ein „serbischer Kommunist“, der
die Selbstverwaltung verteidigte, noch ein unbeugsamer Gegner der neuen
Weltordnung.
Aber welchen Staat versuchte er auf den Ruinen des Systems und der titoistischen Föderation aufzubauen, und auf welchem Gebiet?
Belgrad war die Hauptstadt von Jugoslawien, die Armee, auf die es
zählen wollte, hatte eine von Tito geerbte jugoslawische Tradition; sie
war auch mittels ihrer Privilegien an den Erhalt des jugoslawischen
Staates gebunden; Serbien war selbst eine multiethnische Republik, die
den Kosovo mit seiner albanischen Mehrheit, die Vojvodina mit einer
starken ungarischen Minderheit und den Sandschak mit einer starken
bosnischen Bevölkerung (slawische Muslime) umfasste. Im Gegensatz zum
kroatischen Nationalismus, der seinen Staat auf der Grundlage eines
exklusiven Kroatentums zu konsolidieren trachtete, hatte Milosevic ein
Interesse daran, auf zwei Brettern zu spielen: dem des Jugoslawentums
und dem des serbischen Nationalismus; sein „jugoslawisches“ Projekt
basierte auf einer serbischen Mehrheit und Herrschaft und verband so
beide Ansätze.
Diese doppelte „Linie“ eines reaktionären Bruchs (mit dem
Selbstverwaltungssozialismus und mit der von Tito verkündeten
Gleichheit aller Nationen) stellte jedoch keine Politik eines „ethnisch
reinen“ Großserbien dar: Milosevic hat eine solche Orientierung – im
Gegensatz zu seinen großserbisch-nationalistischen Gegnern und
zeitweiligen Verbündeten – niemals verkündet, weder im Kosovo noch
sonst wo: Deswegen kam die Chefanklägerin Carla del Ponte in solche
Schwierigkeiten.
Milosevic betrieb eine Rezentralisierung des Staates der Föderation
gemäß die Serben begünstigenden Mehrheitsentscheidungen gegen die
Logiken der Konföderation und gegen die Praxis der Abstimmungen im
Konsens (bei denen die Vertreter jeder nationalen Gemeinschaft dasselbe
Gewicht hatten), wie sie seit Mitte der sechziger Jahre angewandt
wurden. Milosevics Wende von 1989 war keine (unmögliche) „ethnische
Säuberung“ des Kosovo (die Albaner stellten dort 80% der Bevölkerung,
es ging nicht darum, sie zu vertreiben oder zu töten). Sondern es
handelte sich um den Aufbau einer „großserbischen“ Herrschaft über das
albanische Volk, die zu einer Art Separation (Apartheid) der
Bevölkerungen geführt hätte, eine Rücknahme des Statuts und von Rechten
der albanischen Bevölkerung, die ihren Anspruch auf Unabhängigkeit
begraben sollte. Die Abschaffung des Kosovo-Statuts, einer
quasi-Republik, bedeutete die Unterordnung als einfache Provinz unter
Belgrad (vor allem im Schulunterricht) und die Einforderung eines
Treueeids im Öffentlichen Dienst sowie die Entlassung aller
(zahlreichen) Widerspenstigen. Ein Ziel war es, die zahlreichen
Abwanderungen von Serben aus der Provinz zu stoppen, indem man den
Verkauf von Land an Albaner untersagte, indem man Kolonien für eine
Wiederansiedlung schuf, indem man ihnen Beschäftigung auf der Grundlage
der Entlassung von Albanern verschaffte und indem man durch diese Taten
versuchte, einen Teil der als „infiltriert“ beschriebenen Bevölkerung
„nach Hause“, also nach Albanien zu schicken. Schließlich wurden
Übergriffe und Brutalitäten der Polizei gegen angebliche
separatistische Aktivisten vorgenommen. Der (zunächst friedliche, dann
bewaffnete) Wiederstand der Albaner im Kosovo führte zu einem Kampf um
Unabhängigkeit und nationale Befreiung gegen die Politik eines
„großserbischen“ Staates im Sinne der Herrschaft Belgrads – den die
Großmächte und vor allem das jakobinische Frankreich natürlich schlecht
unterstützen konnten.
Restjugoslawien (nach dem Ausscheiden der Republiken blieben nur
Serbien und Montenegro übrig) gab jeden Bezug auf den Sozialismus auf
(Verfassung von 1991), ohne dass die Bevölkerung darüber befragt worden
wäre.
Milosevics „jugo-serbische“ Orientierung erklärt gleichzeitig seine
partiellen Konflikte (zu viel „Jugoslawentum“) und seine Annäherungen
(mit Unterstützung serbischer Bevölkerungsteile) an
serbisch-nationalistische Strömungen, die mit ihren Milizen die wahren
Propagandisten einer Politik eines Großserbien waren.
Da diese Strömungen selbst heterogen waren, differenzierten sie sich
einerseits je nach Annahme oder Ablehnung eines Bündnisses mit der
„sozialistischen“ Partei, sodann gleich dem Milosevic-Regime je nach
ihrer Einschätzung der Gewalttaten, und schließlich je nach den
Entscheidungen der Großmächte.
Wo liegt nun das „schwarze Loch“ der dominierenden Thesen? Von 1992 bis
1999 zog es Milosevic vor, die Karte einer Distanzierung von der
Gewaltpolitik zu spielen – nicht ohne hinter den Kulissen, also hinter
der parlamentarischen Fassade des Regimes, eine paramilitärisch
aufgerüstete Polizei einzusetzen, die aus Söldnern bestand. Er zog es
vor, die früheren serbisch-nationalistischen Verbündeten in Kroatien
und Bosnien zu verraten (was ihm seine Gegner auch vorwerfen sollten)
und die internationalen Friedenspläne zu unterstützen, die ein Bündnis
mit Franjo Tudjman vorsahen, um dadurch eine Aufhebung der Sanktionen
und internationale Anerkennung einzuheimsen. Dies gelang ihm teilweise.
II. Vom Bündnis Milosevic-Tudjman zur ethnischen Teilung Bosnien-Herzegowinas
Hinter dem sozialistischen Etikett lassen sich teilweise und vorläufig
zwei Varianten des „Übergangs“ nach Tito unterscheiden. Gleich große
Unterschiede, wie man sie bei den verschiedenen jugoslawischen
Republiken erkennen konnte, ergaben sich auch bei Republiken wie
Rumänien, Ungarn oder Polen. Und man kann sehen, was das sozialistische
Etikett in einem Polen wert war, in dem die „Ex-Kommunisten“ zum
Anknüpfungspunkt der USA im neuen Europa und beim Irak-Krieg geworden
sind.
Die Tatsache, dass die Partei von Milosevic das „sozialistische“
Etikett beibehielt, war eine katastrophale Falle für die jugoslawische
Linke; es sollte bei all denjenigen, die diesem Begriff einen
vernünftigen Sinn unterlegen wollen, nicht für bare Münze genommen
werden.
Wir möchten hier zusammenfassen, worin in der Praxis die Ähnlichkeiten
zwischen dem Milosevic und dem Tudjman-Regime trotz ihrer Differenzen
und partiellen Konflikte lagen:
- Es gab denselben Willen, ein „gesellschaftliches Eigentum“, das gemäß der Verfassung von 1974 „gesellschaftlich“ und nicht territorial gebunden war, durch den Territorialstaat anzueignen; außerdem dieselbe Vetternwirtschaft bei den Privatisierungen;
- die von Belgrad und Zagreb zu Beginn der neunziger Jahre in unterschiedlichen Formen, aber mit derselben Logik eines aggressiven Abbaus nationaler Rechte, die in der Zeit von Tito von den in beiden Republiken lebenden Minderheiten erlangt worden waren, vorgenommenen Verfassungsänderungen: der Kosovo verlor dabei seinen einer Republik ähnlichen Status und die AlbanerInnen mussten akzeptieren, gemäß der „universalistischen“ Praxis Frankreichs „serbische“ BürgerInnen zu werden; parallel dazu verlor Kroatien seinen multinationalen Charakter und wurde zum Staat des kroatischen Volkes, die Serben verloren ihren Status als „Volk”;
- Bosnien-Herzegowina erfuhr dieselbe ideologische und politische Behandlung, die Rechte und Volksgruppen, die sich dort konsolidiert hatten, wurden als „künstliche Schöpfungen“ von Tito abgetan;
- beide versuchten, ihre eigenen Konflikte auf der Grundlage einer ethnischen Teilung von Bosnien-Herzegowina zu regeln;
- auf der Ebene des politischen Regimes kombinierten beide Regierungen die hinter den Kulissen ablaufenden Aktionen paramilitärischer Kräfte mit parlamentarischem Pluralismus (der im Übrigen ausreichend pluralistisch war, so dass in einigen Regionen oder Städten der eine oder andere in die Minderheit geriet. Ab 1996 wurde Milosevics Partei in Belgrad und mehreren Großstädten abgewählt.);
- keiner von beiden hat sich explizit zur Kriegslogik bekannt; beide haben sie jeweils Kompromisse gesucht, die sie zu Gesprächspartnern der Großmächte gemacht haben, weil sie als „gemäßigter“ galten als die jeweilige extreme Rechte.
Aus diesen Gründen ergab sich eine Art Ping-Pong zwischen den beiden Regimen in Belgrad und Zagreb.
Die Politik von Franjo Tudjman wurde aber umso mehr gedeckt und weiß
gewaschen, je mehr sie in Belgrad angeprangert wurde. Und umgekehrt
machte die reaktionäre Realität des Tudjman-Regimes die Verteidiger des
Milosevic-Regimes blind (oder führte sie zu einem komplizenhaften
Schweigen) angesichts der schmutzigen Untaten der Milizen des Regimes
und des Söldners Arkan und/oder der Milizen der
serbisch-nationalistischen Verbündeten der Sozialistischen Partei zu
Beginn der neunziger Jahre im Kosovo, in Kroatien und in Bosnien.
Der antiserbische und antisemitische Diskurs von Tudjman, die Rückkehr
von Symbolen und Milizen der Ustascha, die in die offizielle kroatische
Armee übernommen wurden, die Verteufelung des „serbischen Kommunismus“,
um die kroatischen Pseudo-Demokraten besser hinstellen zu können und
die Rehabilitierung der Vergangenheit und von faschistischen Führern –
all dies wurde in Belgrad angeprangert und daher in den eigenen
vorherrschenden Medien verborgen oder heruntergespielt: Der kroatische
Nationalismus, so sagte man, sei ausschließlich „defensiv“!
Aber die Zielsetzung „Großkroatien“ hatte für diejenigen, die
hinschauten, eine sichtbare institutionelle, ideologische und
militärische Kraft, und zwar in doppelter Weise:
- Auf der Ebene der Innenpolitik ging es darum, ein selektives „Kroatentum“ als Grundlage für eine neue Verfassung zu kreieren und den Status der Serben so zu verändern, dass sie zu einer „Minderheit“ wurden;
- die großkroatische Logik wurde auf externer Ebene nach Bosnien-Herzegowina verlängert. Zunächst tat man dies heuchlerisch: Einerseits, indem den Kroaten Bosnien-Herzegowinas das kroatische Wahlrecht verliehen wurde, was als Vorstufe ihrer Eingliederung in einen einzigen Staat gedacht war; sodann ab 1991, als die Souveränität Bosnien-Herzegowinas anerkannt worden war, indem man eine praktische Politik der territorialen Expansion betrieb. Diese wurde in verschiedenen Varianten versucht: Die eine wurde von den Ustascha-Truppen vertreten und hatte das Ziel, ganz Bosnien Kroatien einzuverleiben – wobei sie in der Öffentlichkeit die Integrität Bosnien-Herzegowinas „respektierte“. Die andere, etwas „gemäßigtere“, wurde von Tudjmans Partei HDZ vertreten und arbeitete an der territorialen Umsiedlung der Kroaten Bosnien-Herzegowinas in Herceg-Bosna mit der „Hauptstadt“ Mostar, das an Kroatien angeschlossen werden sollte; man behauptete, für das „Selbstbestimmungsrecht“ des kroatischen Volkes einzutreten, in Symmetrie zu den separatistischen Forderungen der bosnischen Serben.
Der kroatische und der serbische Nationalismus in Bosnien-Herzegowina,
die jeweils durch Belgrad bzw. Zagreb unterstützt wurden, vertrat
dieselbe Logik einer gewaltsamen und erzwungenen
Bevölkerungsverschiebung, die bis heute das Land Bosnien-Herzegowina
schwächt. Um dieses durchzusetzen, musste man das „Leopardenfell“
Bosnien-Herzegowina zerstören, in dem kaum eine Gemeinde ethnisch
„rein“ war: Das „Recht der ‚Völker’ (im ethnisch-nationalen Sinn) auf
Selbstbestimmung“ (Abtrennung) konnte in der Praxis nur durch ethnische
Säuberung der Territorien durchgesetzt werden, mit dem Ziel, Staaten zu
schaffen, die „sich halten können“ und die sich den Nachbarstaaten
anschließen, indem sie jene Teile der örtlichen Bevölkerung, die dieser
Aufteilung feindlich gesonnen sind, auf unwiderrufliche Weise in die
Flucht treiben.
Um diese Logik zu legitimieren, haben Belgrad und Zagreb (wie ihre
Verbündeten vor Ort) eine verlogene Gleichsetzung aufgemacht: „Muslim“
im ethnisch-nationalen Sinn = religiöser Muslim = Islamist = möglicher
Terrorist. Sie benutzten die von Alija Izetbegovic 1970 abgefasste
islamische Erklärung, die zu Anfang der 1990er Jahre neu aufgelegt
worden war, sowie alle Widersprüchlichkeiten der Politik von
Izetbegovic für ihre Propaganda – was nicht gerade half, das Vertrauen
in den gemeinsamen Staat zu stärken. Alija Izetbegovic schwankte
zwischen einem islamischen Projekt (und war in den „Friedens”gesprächen
bisweilen bereit, auch einen muslimischen Duodezstaat zu akzeptieren)
und dem bosnischen muslimischen Nationalismus, der zunächst die Grenzen
von Bosnien-Herzegowina sichern wollte; und er kam innerhalb der
bosnischen Muslime in Konflikt mit jenen Tendenzen, die den Widerstand
mit Laizismus und der Bevölkerungsvermischung Bosniens verbanden.
In der Propaganda von Belgrad und Zagreb gab es auch Dimensionen sich
selbst erfüllender Prophezeiungen: Die Gewalttaten gegen die
muslimische Bevölkerung, die in die Zange genommen wurde und etwa 70
Prozent der über 100.000 Toten des Bosnien-Krieges zu beklagen hat,
führte unter der muslimischen Bevölkerung zu einer gewissen
Radikalisierung in Richtung Islamismus; die legitime Solidarität der
muslimischen Welt und das Eintreffen von Mudschaheddin in Bosnien gaben
den Thesen von der islamistischen Gefahr, wie sie von Belgrad und
Zagreb in die Welt gesetzt wurden, eine gewisse Glaubwürdigkeit.
Es war jedoch vor allem in Regionen mit muslimischer
Bevölkerungsmehrheit wie in Tuzla, wo die „Bürger“parteien den meisten
Zulauf bekamen und somit die oben erwähnte Gleichsetzung dementierten.
Die Partei von Alija Izetbegovic, die SDA, wurde ihrerseits von
mehreren Strömungen und Spaltungen durchzogen, die sich vom islamischen
Fundamentalismus entfernten. Das Projekt eines islamischen Staates war
im bosnischen Kontext nicht attraktiv – sogar bei denen, die einen
Aufschwung der Religion propagierten, um sich gegen die Übel der
Günstlingswirtschaft und der korrupten Praktiken der Integration in den
Staatsapparat zu schützen.
Es gab daher unterschiedliche islamistische Strömungen, aber es war
eine Lüge, zu behaupten, Bosnien-Herzegowina wäre wegen der
„islamistischen Gefahr“ auseinander gebrochen; wenn der Islamismus
zugenommen hatte, dann in erster Linie als Reaktion auf die Angriffe
gegen die muslimische Bevölkerung.
Die These vom „einzigen serbischen Angreifer“ wurde zu Anfang des
Krieges durch den Diskurs aus Sarajevo bestätigt. An zwei Fronten zu
kämpfen und jene anzuprangern, die von den USA unterstützt wurden, war
sicherlich schwierig: Der Widerstand der multiethnischen und keineswegs
nur muslimischen Armija in Sarajevo brauchte Waffen. Kroatien und
Herceg-Bosna lagen am Wege jeder dem Widerstand geleisteten Hilfe – und
es war auch das einzig mögliche „Hinterland“ für muslimische
Flüchtlinge. Aber dieses „Hinterland“ war eine Falle, eine Geiselname,
die zur Unterdrückung des Diskurses auf desaströse Weise führte. (1) Im
Rahmen der Solidaritätsbewegung gegen die „ethnischen Säuberungen“ gab
es starken Druck von kroatischer Seite, nur einen Aggressor zu benennen
(und eine Art von – serbischem – Vergewaltiger); dies ist der
Frauenbewegung nur zu gut bekannt, besonders Rada Ivekovic, einer
kroatischen Feministin, die als „Hexe“ verteufelt wurde, weil sie zu
sagen gewagt hatte, auch Kroaten hätten Vergewaltigungen begangen. (2)
Die Instabilität der nacheinander konzipierten „Friedenspläne“ vor
Dayton war grundlegend mit der Nicht-Vollendung und somit der
Fortsetzung des Kampfes vor Ort der beiden Staatsprojekte, des
bosnisch-serbischen und des bosnisch-kroatischen, verbunden, dessen
Verlauf man auf den Karten studieren kann. Radovan Karadzic und Ratko
Mladic, die an der Spitze der bosnisch-serbischen nationalistischen
Milizen standen, und Mate Boban, der an der Spitze der
bosnisch-kroatischen nationalistischen Milizen stand, wurden bis Dayton
zu den „Friedensgesprächen“ hinzugezogen. Sie trafen sich im
österreichischen Graz und vor Ort konnte man die Milizen beider Seiten
sehen, wie sie zusammen in der Umgebung von Sarajevo, das „von einem
Aggressor“ belagert war, anstießen.
Die einen hatten die Waffen und die Infrastruktur der jugoslawischen
Volksarmee erhalten, die sich aus Bosnien-Herzegowina zurückgezogen
hatte; die anderen wurden direkt von der kroatischen Armee unterstützt.
Darin lag der entscheidende Grund für die Kriege der ethnischen
Säuberung und für die Tatsache, dass die muslimische Bevölkerung (etwas
weniger als 45% der Gesamtbevölkerung) in die Zange genommen wurde und
etwa 70% der Toten zählt.
III. Die Entwicklungen der internationalen Politik
Die Diplomatie der USA enthielt sich zu Beginn eines direkten
Eingreifens in die jugoslawische Krise. Der IWF unterstützte eher eine
zentrale Steuerung der jugoslawischen Verschuldung und wollte daher
Privatisierungen in der ganzen Föderation durchsetzen.
Nach den Abspaltungen von Slowenien und Kroatien folgten die USA einer
Logik, die sich der Politik Deutschlands annäherte und die kroatische
Propaganda gegen den „serbischen Kommunismus“ aufgriff, wodurch der
wirkliche Charakter des kroatischen Regimes verhüllt wurde.
Washington kritisierte die „Friedenspläne“ der UNO und der EU für
Bosnien. Dies ermöglichte den USA, auf einen Schlag mehrere Optionen zu
haben:
- Sie stellten sich als Freunde der (albanischen und bosnischen) Muslime gegen den serbischen Kommunismus hin, womit sie versuchten, die muslimische Welt ihre Politik im Irak und ihr Schweigen zu Tschetschenien „schlucken“ zu lassen.
- Sie wollten die Versuche einer gemeinsamen autonomen europäischen Politik sowie die Versuche der UNO als lächerlich erscheinen lassen.
Entscheidend waren die inneren politischen Auseinandersetzungen in den
USA und weltweit. Angesichts der Orientierung der Republikaner, die für
Isolationismus eintraten, ging es für Clinton darum, die USA in Bosnien
mit den europäischen Partnern wieder ins diplomatische Spiel zu
bringen, um dadurch die NATO voranzubringen. Die Umstände und die
diplomatischen Entscheidungen von Dayton 1995 sollten ihm dies
ermöglichen.
Frankreich und Großbritannien versuchten zunächst, Jugoslawien zu
erhalten; dann versuchten sie, auf Belgrader Seite die von Deutschland
Zagreb gewährte Unterstützung auszugleichen. Doch den europäischen
Regierungen war schließlich ihr „Aufbau Europas“ wichtiger als ihre
Meinungsverschiedenheiten: Sie schlossen sich also Deutschland bei der
Anerkennung der Unabhängigkeit Kroatiens und Bosnien-Herzegowinas an,
um dadurch die Fassade einer „gemeinsamen europäischen Außenpolitik“ zu
retten.
Der Krieg zwischen Kroaten und Muslimen 1992/1993 öffnete einigen die
Augen und brachte eine Neuausrichtung der Bündnisse, ohne dass sich der
Diskurs (vor allem jener der USA, die auch weiterhin von dem einen
Aggressor sprachen) änderte. Jedoch wurden die Grundlagen für eine neue
Realpolitik der Beteiligten gelegt: Diese bestand in der Suche nach
einer Stabilisierung des Balkans, die durch eine Vereinbarung zwischen
dem von Milosevic geführten Serbien und dem Kroatien Tudjmans erreicht
werden sollte. Dabei wollte man die radikalsten nationalistischen
Kräfte in beiden Regimen ausbooten und Sarajevo zu Kompromissen zwingen.
Die Angriffe der NATO in Bosnien 1995 kurz vor den Verhandlungen in
Dayton waren keineswegs gegen Milosevic gerichtet; denn dieser
konsolidierte damals gerade seine Herrschaft gegenüber den
ultranationalistischen Führern in Bosnien. Daher wurden die Sanktionen
teilweise aufgehoben, was (außer einer Beschleunigung der
Privatisierungen) im Kosovo dazu führte, dass man feststellte, dass die
von Ibrahim Rugova nach der Anderung des Statuts der Provinz vertretene
Politik des friedlichen Widerstandes gescheitert war.
Der Waffenstillstand von Dayton wurde auf der Grundlage von zwei
Gesamtpaketen erreicht. Die Bombardierungen der NATO gegen Ziele der
bosnischen Serben spielten dabei nur eine geringe Rolle und waren Sand
in die Augen, um es den USA zu ermöglichen, mit dem „Teufel Milosevic“
ein Abkommen eingehen zu können (in Washington sagte man, man habe eine
harte Politik betrieben, die Milosevic „zum Kompromiss gezwungen“ habe
– die Wirklichkeit sah ganz anders aus).
Richard Holbrooke hat betont, der politisch-militärische Teil des
Abkommens sei global und regional und eben mit der Hoffnung entworfen
worden, die ganze Region zu stabilisieren; heute jedoch kann man die
Sackgassen deutlicher erkennen:
- Es gab weder Gewinner noch Verlierer, daher war der unterzeichnete Vertrag äußerst widersprüchlich: Der bosnische Präsident unterzeichnete ihn, weil er Präsident von Bosnien-Herzegowina blieb und weil dessen Grenzen erhalten blieben; die anderen, weil die ethnischen Säuberungen durch die Schaffung von zwei „Einheiten“ in Bosnien-Herzegowina gebilligt wurden und weil Bindungen von jeder „Einheit“ mit den Nachbarstaaten ermöglicht wurden.
- Franjo Tudjman unterzeichnete im Namen der Kroaten und Slobodan Milosevic im Namen der Serben und beide wurden durch diese Unterschriften auf internationaler Ebene in Bosnien-Herzegowina und in ihren Ländern bestätigt.
- Franjo Tudjman hatte erst akzeptiert, in Dayton zu unterschreiben, als die „serbische Frage“ in Kroatien durch die ethnische Säuberung von mehreren Hunderttausenden Serben im Verlauf des Sommers 1995 „geregelt“ worden war. Dadurch fiel ihr Anteil an der Bevölkerung in Kroatien von 12 auf 5 Prozent, was den Großmächten, dem Haager Tribunal und Milosevic durchaus bekannt war.
- Slobodan Milosevic hatte die ethnische Säuberung des Serben aus Kroatien im Vorfeld der Vereinbarungen von Dayton durchaus hingenommen, denn dies sorgte für die internationale Anerkennung und das Schweigen über seine Politik im Kosovo. Darüber hinaus versuchte Serbien, die aus Kroatien fliehenden Serben in die Republika Srpska und in den Kosovo zu führen, um dort die serbische Präsenz zu verstärken. Außerdem gewann er zu Lasten seiner früheren bosnisch-serbischen Verbündeten: Kurz vor den Abkommen von Dayton wurden Ratko Mladic und Radovan Karadzic als direkt Verantwortliche für das Massaker von Srebrenica vor dem Haager Tribunal angeklagt. Dies ermöglichte es Milosevic, an ihrer Stelle die Vereinbarungen von Dayton zu unterzeichnen – „im Namen aller Serben”! Muss man noch betonen, dass er dies mit einer gewissen Legitimation von Seiten der bosnischen Serben nur tun konnte, weil die Republika Srpska, das Produkt der von Mladic und Karadzic durchgeführten ethnischen Säuberungen, auf der Ebene der Verfassung als eine der beiden Einheiten Bosnien-Herzegowinas anerkannt worden waren? Die Enklave Srebrenica war von Sarajevo aufgegeben worden. Aber sie sollte von den Streitkräften der NATO und der UNO beschützt werden – was eben nicht geschah.
Hier einige „Kollateralschäden“ dieser Vereinbarungen, die das Haager Tribunal interessieren sollten:
- Im Prozess gegen General Krstic wurde das Massaker von Srebrenica vor dem Haager Tribunal als „Völkermord“ behandelt. Der General wurde nicht verurteilt, weil er dieses Massaker oder den Genozid gewollt hatte, sondern weil er nicht eingegriffen hatte, ihn zu verhindern. Das Tribunal hatte überhaupt keinen Beweis für eine Befehlskette, die gezeigt hätte, dass Milosevic in die Entscheidung über das Massaker eingebunden gewesen wäre (er wäre wahrscheinlich auf ähnlichen Grundlagen verurteilt worden wie Krstic) – aber die Großmächte waren direkt dafür verantwortlich, die Zivilbevölkerung nicht beschützt zu haben.
- Franjo Tudjman starb 1999, ohne dass er je angeklagt worden wäre, während seine Armee und sein Regime direkt in die Gewalttaten gegen Serben in Kroatien und in die ethnischen Säuberungen in Herceg-Bosna, besonders in Mostar, verwickelt gewesen sind.
- Schließlich verlor der von Ibrahim Rugova geführte friedliche Widerstand der Albaner in Dayton jede Hoffnung auf internationale Anerkennung – und der Aufbau der Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) ergab sich aus dieser Feststellung.
IV. Von Dayton in den Kosovo – und zu einem Krieg, um die NATO zu retten
Dayton bedeutete somit, dass sich die starken Mächte der Region
konsolidieren konnten. Die Hoffnung auf eine internationale Anerkennung
der selbst ausgerufenen Republik Kosovo/Kosova wurde zunichte gemacht.
Daher ergaben sich Kritiken an der Strategie des friedlichen
Widerstandes, wie sie von Ibrahim Rugova und seiner Partei LDK
(Demokratische Liga des Kosovo) seit den von Belgrad 1989 vorgenommenen
Änderungen der Verfassung verfolgt worden war. Als Ergebnis von Dayton
entstand eine alternative Widerstandsstrategie für die Unabhängigkeit,
die auf eine Internationalisierung des Konfliktes mittels Gewalt
abzielte.
Die Befreiungsarmee des Kosovo (UÇK) hatte sehr unterschiedliche
ideologische Ursprünge. Sie begann 1995 mit ihren Aktionen gegen den
serbischen Polizeiapparat, was zu Repressalien führte, die umso
maßloser ausfielen, als der Widerstand weit über die UÇK hinausging und
weil ganze Familien, besonders in den Dörfern, um einige ihrer
Mitglieder in jener Organisation herum solidarisch sein konnten: Je
mehr die UÇK unterdrückt wurde, desto populärer wurde ihr Kampf –
obgleich sie eine randständige, in ihrem Verhalten (auch gegenüber
anderen Sippen) äußerst sektiererische und unfähige Gruppe war, die
Popularität ihres politischen Gegners Ibrahim Rugova in Frage zu
stellen.
Zwischen 1996 und 1998 wurde die UÇK nicht nur von Belgrad, sondern
auch von allen westlichen Diplomaten, auch denen der USA, als
„terroristisch“ eingestuft; sie verlangten von Belgrad nur eine gewisse
Mäßigung. Ende 1998, nachdem die Gewalttätigkeiten zugenommen hatten,
überzeugte sich Madeleine Albright, dass die USA aus der Angelegenheit
einige geostrategische Vorteile ziehen konnten – wodurch laut Richard
Holbrooke die beiden Errungenschaften von Dayton weitergeführt würden.
- In globaler Hinsicht ging es darum, den Kosovo-Konflikt mit dem Ziel zu instrumentalisieren, die Neudefinition der NATO und deren Ausweitung nach Osteuropa zu bestärken, Militärbasen der USA in dieser Region und vor allem auf dem strategisch bedeutsamen Balkan mit seinen Meerzugängen in Albanien und Rumänien aufzubauen und an der Integration des europäischen Aufbaus im Rahmen der Beziehungen zu den USA gegen jede autonome politische Versuchung der EU zu arbeiten.
- Von Seiten der UÇK ging es darum, sich auf den anfänglichen Diskurs der USA gegen den serbischen Kommunismus und zugunsten einer Verteidigung der Albaner zu stützen, um die nach Dayton laufende Dynamik der internationalen Konsolidierung des Milosevic-Regimes zu brechen und zu versuchen, eine Anerkennung des Rechtes auf Selbstbestimmung zu erreichen.
Wenn man führen will, muss man handeln, sofern man nicht in Misskredit
fallen möchte. Um aber Bombardierungen der NATO auf ein europäisches
Land zu legitimieren, brauchte man nichts weniger als einen „Hitler“
und eine Bedrohung durch einen „Völkermord“ an den AlbanerInnen.
Wie Saddam Hussein wurde so auch Slobodan Milosevic als „Hitler“
katalogisiert. Am 25. März 1999 titelte Le Monde: „Bill Clinton bemühte
Churchill gegen Hitler, um die Intervention zu rechtfertigen“ Als
Untertitel ergab sich: „Der amerikanische Präsident möchte die
serbischen Fähigkeiten einschränken, den Genozid fortzusetzen“.
In Wahrheit hatte die US-amerikanische Diplomatie drei Ziele ausgemacht
a) eine substantielle Autonomie des Kosovo – aber keine Unabhängigkeit,
somit b) Beherrschung durch Belgrad unter Beibehaltung der Grenzen, in
der Hoffnung, Belgrad dazu zu bringen, c) das Wichtigste zu
akzeptieren: die NATO. Hier war man weit davon entfernt, zu denken, in
Belgrad regiere ein Hitler, der im Kosovo einen Genozid vorbereite.
Doch der erste Verhandlungsabschnitt war in Rambouillet von Frankreich
und Großbritannien vorgenommen worden, die aus dem Kosovo ihr „Dayton“
der Außenpolitik der EU machen wollten. Hubert Védrine und Robin Cook
übernahmen die ersten beiden Teile des Triptychons der Vereinigten
Staaten, also die Ablehnung einer substantiellen Autonomie und die
Garantie der bestehenden Grenzen; aber die NATO-Frage wurde
ausgeklammert und für die Diplomaten trat „das Schlimmste“ ein: Im
Februar 1999 weigerten sich die Albaner des Kosovo, das von Belgrad
akzeptierte Projekt ihrerseits zu unterschreiben – eben weil es die
Unabhängigkeit des Kosovo beerdigte. Die militärische Option blieb als
Drohung bestehen.
Dieser Misserfolg der ersten Phase von Rambouillet Ende Februar wurde
von Jean-Michel Demetz in der Zeitschrift L’Express unter dem Titel
kommentiert: „Der doppelte Misserfolg von Madeleine: Im Kosovo weder
Abkommen noch Militärschlag: Die amerikanische Außenministerin ist
enttäuscht“.
Es wurde eine neue Frist zugestanden, mit der Entscheidung, die
Verhandlungen am 23. März wieder aufzunehmen. In der Zwischenzeit wurde
die UÇK von Madeleine Albright überzeugt, das Autonomie-Abkommen zu
unterzeichnen, wobei sie ihnen mündlich eine Präsenz der NATO, rasche
Wahlen und eine Volksabstimmung binnen dreier Jahre zusicherte.
Für die USA war das Ziel ein Eingreifen der NATO, um dadurch Soldaten
in Serbien stationieren zu können; es genügte, sie als maßgeblichen
Bestandteil des Abkommens durchzusetzen und die erwartete Ablehnung von
Seiten Belgrads mit Bomben zu „bestrafen“.
Der „Feldzug aus der Luft“ weitete sich zu einem Krieg aus, ohne dass ein Mandat der UNO vorgelegen hätte.
Die NATO stand kurz davor, auseinander zu brechen. (3) Es war
offensichtlich, dass die Bombardierungen im Kosovo eine Katastrophe
ausgelöst hatten (800.000 AlbanerInnen flohen aus der Provinz, die
Zivilbevölkerung wurde auf dem „Höhepunkt“ der Luftschläge – z.T.
irrtümlicherweise, teilweise gewollt – zur Zielscheibe, weil der
US-Kommandant hoffte, die serbische Bevölkerung würde sich gegen
Milosevic wenden). Doch trat offensichtlich das Gegenteil ein; der
wegen des als ungerecht empfundenen Bombenhagels entstehende
Patriotismus stärkte im Gegenteil unmittelbar die Position von
Milosevic und führte die Opposition in eine Falle. (4) Der Belgrader
Journalist Stanko Cerovic, ein erklärter Gegner von Milosevic, hat dies
voll Bitternis analysiert.
Am 22. Mai 1999 (also mitten im Krieg) traf die kanadische Anklägerin
Louise Arbour, Staatsanwältin am Haager Tribunal, die Entscheidung,
Slobodan Milosevic, der damals noch Präsident der Bundesrepublik
Jugoslawien war, sowie mehrere hohe Verantwortungsträger des Regimes
aus Politik und Militär wegen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit und
Verletzungen der Gesetze und Bestimmungen im Krieg“ anzuklagen. Die
Anklage bezog sich auf den Zeitraum vom 1. Januar 1999 (als das
umstrittene Massaker von Radcak mit ungefähr 45 Toten stattfand) bis
zum Ende des Krieges im Juni 1999. Laut Pierre Hazan wurde diese
Entscheidung der kanadischen Anklägerin „präventiv“ getroffen, wobei
sie eher im Gegensatz zu den Großmächten als unter ihrem Druck agierte.
Dieser These zufolge habe sie befürchtet, dass die Regierungen der
NATO-Länder angesichts eines Krieges, der sich zu einem regelrechten
Fiasko auswuchs, mit dem Belgrader Führer ein Abkommen um jeden Preis
abschließen wollten. Im Gegensatz dazu möchten wir festhalten, dass die
Anklage von Milosevic genau in die Richtung ging, die die NATO bei der
Legitimierung ihrer Handlungen in ihrer Propaganda auch beschritten
hatte (5) – wir können allerdings einräumen, dass Louise Arbour (wie
Carla del Ponte) selbst Opfer jener Propaganda geworden ist.
Man verkündete also im Voraus eine Anklage von Milosevic wegen eines
Genozids im Kosovo: Dort gebe es, so verkündete Clinton, Hunderte von
Leichengräbern, einige Dutzend Srebrenicas, zehn-, wenn nicht
hunderttausende von Toten – was den Krieg rechtfertige. Um den
deutschen Kriegseinsatz „durchzupauken“, was vor allem für die Grünen
in der Koalition keine Leichtigkeit war, musste man die „Nie wieder
Auschwitz“-Karte spielen. Der deutsche Verteidigungsminister Rudolf
Scharping verkündete am 9. April 1999, es gebe einen „Hufeisenplan“ zur
Vertreibung der AlbanerInnen, der seit November 1998 im Kosovo
umgesetzt würde.
Das Problem dabei war, dass
- der „Hufeisenplan“ ein Schwindel war, der vom Haager Tribunal dann auch nicht mehr aufgegriffen wurde;
- man nach Kriegsende internationale Beobachter in den Kosovo schickte, um unter dem Schutz und in Anwesenheit der NATO die angeblich massenhaft verscharrten Leichen mit allen modernen Mitteln zu suchen (vgl. El Pais, 23. November 1999). Die Ergebnisse jener Nachforschungen standen in keinem Verhältnis zu den erhobenen Vorwürfen.
- Laut dem Bericht von Human Right Watch von 2001 (6) dürfte die Massenvertreibung von AlbanerInnen während des Krieges mehreren Zielen gedient haben: Veränderung der ethnischen Zusammensetzung des Kosovo; Verhandlungen über die territoriale Aufteilung des Kosovo, aber auch Ziele, die mit dem Krieg der NATO direkt verbunden waren, nämlich eine Destabilisierung der Nachbarstaaten, um eine Intervention mit Bodentruppen zu erschweren.
- Der Bericht bringt auch eine Bilanz der auf Anordnung des Haager Tribunals innerhalb von zwei Jahren der Nachforschungen ausgegrabenen Leichen: Es seien 4 300 AlbanerInnen von den serbischen und jugoslawischen Sicherheitskräften getötet worden – diese Ziel liegt jedenfalls niedriger als die Todesrate von Srebrenica mit dem binnen Stunden durchgeführten Massenmord.
- Während der deutsche Außenminister Joschka Fischer den NATO-Krieg mit der „humanitären Katastrophe“ des Genozids gerechtfertigt hatte, meinte ein offizieller Bericht der deutschen Sicherheitsdienste vom 12. Januar 1999: „Der Osten des Kosovo ist noch nicht in den bewaffneten Konflikt einbezogen. Das öffentliche Leben in den Städten Prischtina, Urosevic, Gnjilan usw. ist in der ganzen Zeit des Konfliktes auf relativ normaler Grundlage weitergegangen. Die Aktionen der Sicherheitskräfte waren nicht gegen die albanischen Kosovaren als ethnische Gruppe gerichtet, sondern gegen einen militärischen Gegner (die UÇK) und seine wirklichen oder vermeintlichen Anhänger.”
- Schließlich hat der Oberste Gerichtshof des Kosovo in Prischtina nach einer Untersuchung am 6. September 2001 festgestellt, dass es im untersuchten Zeitraum im Kosovo keinen Völkermord gegeben habe. (vgl. Depesche der AFP vom 7. September 2001).
Was wissen die Parlamentarier des EP oder die Abgeordneten des
US-Kongresses davon? Was meint das „republikanische“ Frankreich dazu,
das sich weigert, der korsischen Bevölkerung ein Statut zuzugestehen,
oder das sich geziert hat, die Charta der Minderheitensprachen des
Europarates anzunehmen? Weshalb haben die deutschen Grünen den Krieg im
Kosovo und nicht den Irak-Krieg unterstützt – während doch die Massaker
in den Kurdendörfern des Irak unvergleichlich schlimmer waren als die
Repression im Kosovo? Und welche Bilanz ziehen sie nun? Welche
Rechenschaft haben das Europäische Parlament und der Kongress der
Vereinigten Staaten für einen Krieg verlangt, der viele negative
Konsequenzen gezeitigt hat?
Einige Schlussfolgerungen: Den Kämpfen für eine andere Welt einen Sinn geben
Einige Männer und Frauen (die gestern häufig Antiimperialisten gewesen
sind) stellten die begangenen Gewalttaten und die Schwierigkeiten, von
innen Widerstand zu leisten, fest und kamen zum Schluss, man müsse ein
militärisches Eingreifen der Großmächte fordern oder die Intervention
unterstützen. Und angesichts des Scheiterns der Friedenspläne der UNO
und der EU müsse man die Hoffnung auf die NATO richten, die zum
bewaffneten Arm der UNO umzugestalten sei, wodurch sie zu einem
„Gendarm“ der „zivilisierten Welt“ werde. Die Strömungen, die dieser
Ideologie anhängen, begrüßten den Krieg der NATO zwischen März und Juni
1999 im Kosovo als „verspätet, aber willkommen“ – als legitim, wiewohl
er nach dem Völkerrecht eigentlich illegal war.
Wir haben diese Illusionen von Anfang an kritisiert und die zahlreichen
Mobilisierungen gegen den Krieg der NATO unterstützt, indem wir die
Sackgassen und Lügen des angeblich „humanitären“ Krieges, der weder das
Leben noch das Recht geschützt hat, angegriffen haben.
Die Länder des Balkan sind heute eindeutig in ein euro-atlantisches
Projekt der „Integration“ eingebunden, das mit einer demokratischen
Entscheidung über den Gesellschaftstyp, also einer wirklichen
Selbstbestimmung der betroffenen Volksgruppen über die Formen und
Inhalte der Staaten, in denen sie leben wollen, und die ihre Interessen
und ihre Würde verteidigen könnten, nichts zu tun hat. Der Kosovo wurde
zu eine riesigen US-Militärbasis (Bondsteel) umgebaut. Die
Verallgemeinerung von prekären Staaten auf dem Balkan, die angegriffen
werden und wegen ihrer Übernahme neoliberaler Politiken unfähig sind,
den sozialen Zusammenhalt zu sichern, zeigt, dass die Region nach dem
NATO-Krieg – und sechs Jahre nach dem Sturz von Milosevic – keineswegs
stabilisiert wurde.
Wir haben die Schwarz-Weiß-Logiken (entweder Milosevic oder die NATO)
immer abgelehnt, nicht, weil wir beide auf dieselbe Ebene stellen,
sondern weil die Entscheidung für die eine oder die andere Seite weder
nötig war noch etwas geklärt hat. Die Mobilisierungen mussten und
müssen auf zwei Ebenen erfolgen:
- auf der Ebene der geostrategischen Kämpfe, der europäischen und der weltweiten „Ordnung“, zählte Milosevic nicht; daher ging es darum, die Kriegseinsätze der NATO und die neoliberalen und imperialistischen Logiken der USA und der EU – und natürlich ihre Propagandalügen – zu bekämpfen;
- aber gemessen mit der Elle eines sinnhaften Widerstandes gegen die imperialistische Weltordnung musste man sich eindeutig von der reaktionären Politik eines Milosevic abgrenzen, weil sie jede multinationale Annäherung zwischen den Völkern verhinderte und das sozialistische Projekt in den Dreck zog. Seine Politik führte das serbische Volk in die schlimmsten Sackgassen und dadurch wurde er zum wichtigsten Architekten seines eigenen Sturzes.
Anmerkungen
(1) Als ich im Dezember 1992 eine Solidaritätsreise nach
Sarajevo unternahm, konnte ich Berater von Alija Izetbegovic sprechen,
die von der doppelten Aggression sprachen (die mit bloßem Auge sichtbar
war); doch sie konnten nicht an zwei Fronten gleichzeitig kämpfen: Die
Muslime, die sich nach Kroatien geflüchtet hatten, wurden von Zagreb
als Geiseln genommen. Im folgenden Jahr wurde die Regierung in Sarajevo
mit der Offensive der ethnischen Säuberung der Muslime in Herceg-Bosna
durch kroatische Militärs konfrontiert. Der Druck der USA, das Bündnis
mit den Kroaten zu erneuern, und die politischen Entscheidungen von
Alija Izetbegovic (der keine wirkliche multiethnische Mobilisierung
wollte, weil diese sich gegen ihn selbst richten konnte) lasteten
schwer auf der simplifizierenden öffentlichen Propaganda.
(2) Die Instrumentalisierung von Frauenangelegenheiten und
Frauenorganisationen in diesem Krieg (wie in anderen) traf dennoch auf
erheblichen Widerstand. In den achtziger Jahren prangerten serbische
Anwältinnen in Belgrad eine Propaganda an, die nur die albanischen
Vergewaltiger serbischer Frauen stigmatisierte. Während des
Bosnien-Krieges versuchte Tudjman, eine internationale Frauenkonferenz
zu kontrollieren, indem er den „Frauen in Schwarz“, serbischen
Feministinnen, die in Belgrad regelmäßig gegen den Krieg
demonstrierten, die Teilnahme verwehrte. Doch seine Versuche
scheiterten.
(3) Während einer Fernsehsendung der BBC vom 20. August erklärte der
stellvertretende Außenminister der USA, Strobe Talbott, die Differenzen
innerhalb der NATO seien so stark gewesen „dass es wahrscheinlich sehr
schwierig geworden wäre, die Einheit und Entschlossenheit der Allianz
zu bewahren“, wenn es nicht das Anfang Juni mit dem jugoslawischen
Präsidenten Slobodan Milosevic abgeschlossene Abkommen gegeben hätte.
Vgl. www.wsws.org/francais/News/1999/sept99/ 10sept_kosovo.shtml
(4) Als über ein Jahr später, nachdem sie vergeblich auf einen Aufstand
der Bevölkerung gehofft hatten, die Westmächte auf Wahlen setzten, um
Milosevic loszuwerden (ein Paradox, wenn man ihn als einen Hitler
ansieht), suchten sie mittels Meinungsumfragen einen Kandidaten, der
Milosevic besiegen konnte: Dies war nicht der der NATO treu ergebene
Zoran Djindjic, sondern Vojislav Kostunica, der noch nationalistischer
als Milosevic war (und der Milosevic vorwarf, die Serben in Kroatien
und Bosnien sowie im Kosovo verraten zu haben). Er war ein radikaler
Gegner der Bombardierungen der NATO und … nicht käuflich!
(5) Das „politische“ Image des Haager Tribunals wurde durch diese
Anklage und den Zeitpunkt der Anklage, sowie durch die Tatsache, dass
Carla del Ponte meinte, es gäbe keinen Grund, den Anschuldigungen gegen
die NATO nachzugehen, weiter verstärkt. Amnesty International und Human
Right Watch haben im Gegensatz dazu 2001 die Einschätzung vorgetragen,
dass die NATO sowohl wegen der Bombardierung ziviler Ziele als auch den
Abwurf von Streubomben die Konventionen des Kriegsrechts missachtet hat.
(6) www.hrw.org/reports/2001/kosovo/undword. htm. Dieser Bericht bringt
auch eine Bilanz der Übergriffe, wie sie von Mitgliedern der UÇK gegen
Serben oder Albaner oder Minderheiten, die mit den Serben 1998 und nach
dem Krieg „zusammengearbeitet“ haben, vorgenommen worden sind.
Übersetzung für Inprekorr Nr. 418/419, September 2006: Paul B. Kleiser
31-08-2006, 19:14:00 |Catherine Samary