Die Arbeiterräte waren das Herzstück des „Ungarnaufstandes“ 1956. Keinesfalls war das Ziel der ungarischen Revolution das kapitalistische Ungarn von heute.
„Die Emanzipation der Arbeiterklasse muß das Werk der Arbeiterklasse selbst sein“
Karl Marx 1864.
Wie sich zeigte, hat der Stalinismus – nicht nur in Ungarn, auch in der
Sowjetunion, in Rumänien, Jugoslawien, in allen Ländern des Raumes -
nur den linken Ideologen geschadet. Die Viren des extremen
Nationalismus, des Revanchismus, der religiösen Intoleranz und des
Rassismus schlummerten hingegen unversehrt im Eisblock des Stalinismus;
als das Tauwetter einsetzte, erwachten sie zu neuem Leben, und jetzt
blühen und gedeihen sie – die vierzig oder siebzig Jahre konnten ihnen
nichts anhaben. Natürlich gehört es sich heut nicht mehr, 1956 zu
verleugnen, aber schon stehen, trotz des matten Protestes der
Tatsachen, neue Verfälschungen auf der Tagesordnung. Wer zum Beispiel
redet noch davon, daß die in der Revolution neu entstandenen Parteien
von Rang allesamt ein pluralistisches, neutrales, sozialistisches
Ungarn forderten? Oder daß die Arbeiterräte das staatliche Eigentum
nicht durch eine kapitalistische Restauration, sondern durch
kollektives Eigentum ersetzen wollten?
1. Der sozialistische Charakter der ungarischen Revolution von 1956
István Eörsi spricht vom sozialistischen Charakter der ungarischen
Oktoberrevolution, des ungarischen Volksaufstandes, wie sie vielfach
von bürgerlichen wie stalinistischen Autoren genannt wird.
„Arbeiterräte“, „Produktionsmittel in Kollektiveigentum“, ein
„sozialistisches Ungarn“; erstaunliche Forderungen in einem Land, das
alle Welt sozialistisch nannte. Die ungarische Revolution von 1956
gehört zu den großen Revolutionen im 20. Jahrhundert, trotz ihrer
kurzen Zeitspanne. Sie hat den imperialistischen, antisozialistischen
und arbeiterfeindlichen Charakter der Sowjetunion praktisch bewiesen.
Dies genau ist es, was die bürgerliche Welt vergessen machen möchte.
Hier reichen sich die Erben Stalins und das Bürgertum, das sich
brüstet, den „Kommunismus“ überwunden zu haben, die Hand. Darum müssen
wir uns an diese Revolution der Arbeiterräte erinnern und sie in
unserem Herzen bewahren.
Die Arbeiterräte, die in der russischen Revolution Sowjets hießen, sind
das Herzstück der sozialistischen Revolution. Im April 1917 schrieb
Lenin über sie:
„Die Sowjets der Arbeiter-, Soldaten-, Bauern-, usw.- deputierten
werden nicht bloß in der Hinsicht verkannt, daß der Mehrheit ihre
Klassenbedeutung, ihre Rolle in der russischen Revolution unklar ist.
Verkannt werden sie auch noch insoweit, als sie eine neue Form,
richtiger gesagt, einen neuen Typus des Staates darstellen.
Der vollendeste, fortgeschrittenste bürgerliche Staat ist der Typus der
parlamentarischen Republik: die Macht gehört dem Parlament; die
Staatsmaschinerie, der Apparat und das Organ der Verwaltung, ist die
übliche: stehendes Heer, Polizei und eine faktisch unabsetzbare,
privilegierte, über dem Volke stehende Beamtenschaft.
Die revolutionären Epochen haben jedoch seit Ende des 19. Jahrhunderts
den höchsten Typus des demokratischen Staates hervorgebracht, eines
Staates, der, nach einem Ausdruck von Engels, in mancher Hinsicht schon
aufhört, ein Staat zu sein, der ‚kein Staat im eigentlichen Sinne mehr’
ist. Es ist dies der Staat vom Typus der Pariser Kommune, der die vom
Volke getrennte Armee und Polizei durch die direkte unmittelbare
Bewaffnung des Volkes selbst ersetzt.“…“Gerade einen Staat von diesem
Typus hat die russische Revolution in den Jahren 1905 und 1917
hervorzubringen begonnen. Die Republik der Sowjets der Arbeiter-,
Soldaten-, Bauern-, usw.- deputierten, die in der gesamtrussischen
Konstituierenden Versammlung der Volksvertreter oder im Sowjet der
Sowjets u. dgl. vereinigt sind – das ist es, was bei uns jetzt, im
gegenwärtigen Augenblick, bereits zur Wirklichkeit wird, dank der
Initiative des vielmillionenköpfigen Volkes, das aus eigener
Machtvollkommenheit, auf seine Art die Demokratie schafft…“
Bereits einen Tag nach der zweiten russischen Invasion in Ungarn verkündete Radio Rajk am 5.11.56:
„Den russischen Gebietern haben wir wenig zu sagen. Sie haben
mittlerweile nicht nur die ganze übrige Welt, sondern auch uns
Kommunisten davon überzeugt, daß sie sich den Teufel um den Kommunismus
scheren und ihn zum Handlanger des russischen Imperialismus …
herabgewürdigt haben.“
Die Arbeiterräte, die ureigensten Werkzeuge jeder sozialistischen
Bewegung, entlarvten die „kommunistische“ Herrschaft als die moderne
Fortsetzung der zaristischen Despotie. Diesen Beweis praktisch
geliefert zu haben, darin liegt die Bedeutung der ungarischen
Revolution von 1956.
So ist es nicht überraschend, daß gerade an diesem sozialistischen
Charakter der Revolution am meisten Anstoß genommen wird. Bezeichnend
ist Oskar Anweiler, ein den Räten wohl gesonnener Historiker, welcher
aber aus den Räten eine Antipode zum Kommunismus macht:
„Ungarn im Jahre 1956 zeigte mit aller Deutlichkeit, daß Lenins Losung
von 1917 „Alle Macht den Räten“ vierzig Jahre später zum gefährlichen
Kampfruf gegen den Kommunismus geworden ist.“
Das Gegenteil war der Fall: Die sich im ganzen Land spontan bildenden
Räte waren kein „Kampfruf“ gegen den Kommunismus, sondern der Ausdruck
der kommunistischen Bewegung selbst. Ihr revolutionäres Auftreten in
Ungarn bewies nur den nichtsozialistischen, bzw. nichtkommunistischen
Charakter dessen, was sie bekämpften: Partei, Gewerkschaft, Staat und
vor allem die russische Vorherrschaft in Osteuropa, namentlich in
Ungarn.
Die wichtigste territoriale Organisation der revolutionären Räte vor
der zweiten russischen Intervention war die Versammlung der
Arbeiterräte in Budapest vom 31. Oktober. Hier kamen Delegierte aus
rund zwei Dutzend der größten Fabriken der Hauptstadt zusammen. In der
verfaßten Resolution heißt es:
„Die Fabrik gehört den Arbeitern. Letztere sollten dem Staat eine
Abgabe zahlen, die auf der Grundlage der Produktionsleistung und einem
Teil der Gewinne errechnet wird.“ Oberstes Kontrollorgan der Fabrik ist
der demokratisch gewählte Arbeiterrat….4. Der Unternehmensleiter wird
zusammen mit den leitenden Angestellten vom Arbeiterrat gewählt.“
Nebenbei sei hier der auffallende Tatbestand vermerkt, daß, ähnlich wie
in Spanien und Portugal, auch in Ungarn die kollektive und
unmittelbare Inbesitznahme der Produktionsmittel durch die arbeitende
Belegschaft als Anbeginn der originären sozialistischen
Vergesellschaftung begriffen wird.
Die ungarische Revolution verstand auch, sich Klarheit über ihren sozialistischen Charakter zu verschaffen.
„János Kádár und seine neugegründete Partei mögen Ungarn und die Welt
für dumm verkaufen, aber die Tatsache bleibt bestehen, daß russische
Waffen die Demokratie und den Kommunismus in Scherben schlagen. Wir
sind überzeugte Kommunisten, aber wir müssen erkennen, daß nicht nur
Stalin den Kommunismus als Vorwand mißbraucht für die Expansion des
russischen Imperialismus und zur Versklavung freier Völker. Kammeraden!
Unser Platz ist auf den Barrikaden, wo unsere ungarischen Brüder und
Schwestern ihren fast aussichtslosen Kampf gegen diesen brutalen
Imperialismus führen“ , verkündete Rádio Rajk am 5. November.
Der sozialistische Charakter der ungarischen Revolution äußert sich
einmal in der spontanen Selbstorganisation der ungarischen Arbeiter, in
der Konstitution von Fabrik-, Arbeiter-, Revolutionsräten, dann im
Bestreben sich territorial zu organisieren und schließlich im
Bewußtsein dieser Räte, vom sozialistischen Inhalt ihres Daseins, was
besonders die territorialen Räte der industriellen Zentren,
eingeschlossenen derjenigen Budapests deutlich machten. Den
sozialistischen Charakter der ungarischen Rätebewegung verstanden, wird
der antisozialistische Charakter des ungarischen Staates wie auch der
Sowjetunion offenbar.
Eine objektive Aufarbeitung dieser Revolution war in Ungarn und in
Osteuropa, geschweige denn in der Sowjetunion selbst, nicht möglich. Es
ist darum kein Zufall, daß zuerst trotzkistische und
rätekommunistische Autoren den sozialistischen Charakter der
ungarischen Revolution erkannten.
Der Begriff einer herrschenden Klasse in der Sowjetunion und den
Ländern des sogenannten „realexistierenden Sozialismus“ gehört zu den
großen theoretischen Schwierigkeiten. Dieser Gegenstand kann hier zwar
nicht entwickelt werden, einige Bemerkungen aber sind für das
Verständnis erforderlich.
Bereits in den 60er Jahren behauptete Milovan Djilas, daß es auch in
sozialistischen Gesellschaften eine herrschende Klasse gäbe. Sie ginge
nach dem Sieg der kommunistischen Revolution aus dem Apparat der
kommunistischen Partei hervor und monopolisiere in sich die gesamte
politische und wirtschaftliche Macht. An der Existenz des Sozialismus
in den Ländern Osteuropas und der Sowjetunion lies Djilas keinen
Zweifel. Doch steht dieser Sozialismus im Widerspruch zum
sozialistischen Charakter der Revolution in Ungarn. Handelte es sich
bei der Erhebung um eine sozialistische Revolution, so konnte und kann
dieses politische und wirtschaftliche System wogegen sich diese
Erhebung von 56 richtete unmöglich sozialistisch oder kommunistisch
genannt werden. Wenn die osteuropäischen Gesellschaften aber keine
sozialistischen Gesellschaften im Sinne der traditionellen
Arbeiterbewegung waren, was waren sie dann? Wenn nicht die große
Mehrzahl der Arbeiterinnen und der Arbeiter die wirkliche Macht in
ihren Händen hielten, wer hatte sie dann? Hieraus folgt wie von selbst
die Frage nach der Existenz der herrschenden Klasse.
Die Existenz einer herrschenden Klasse ist in Osteuropa ist selbst im
Sinne der Marxschen Terminologie leicht zu konstatieren. Folgen wir
beispielsweise der Argumentation Voslenskys. Die herrschende Klasse
nennt er Nomenklatura. Sie verfügt als Klasse, d.h. als Gesamtheit und
nicht in Gestalt einzelner Mitglieder dieser Gesamtheit, über die
Verwendung der Produktionsmittel und die Verteilung des mit ihnen
erwirtschafteten gesellschaftlichen Mehrwertes. „Die Nomenklatura ist
der kollektive Besitzer des ‚Staatseigentums’ in der Sowjetunion.“
Ähnlich verhielt es sich in den anderen Ländern des „Realsozialismus“,
mit dem wichtigen Unterschied allerdings, daß zur nationalen
Nomenklatura noch deren Bevormundung durch die Führung der Nomenklatura
der Sowjetunion tritt.
Die Entstehung dieser „neuen Klassen“ in Osteuropa war eine direkte
Folge des 2. Weltkrieges und der Aufteilung der Welt in Jalta und
Potsdam. Dort legitimierte die SU nicht nur ihren Raub an neuen
Ländern, wie Teile Kareliens von Finnland, Ostpolens und die baltischen
Staaten, die Stalin im Vertrag mit Hitler versprochen waren, Moldawien,
die Kurillen usw., sondern auch die Vorherrschaft in Osteuropa. Die
folgenschweren Fehler der staatlichen Ordnung in Osteuropa und auf dem
Balkan, wie sie in den Folgeverträgen von Versailles verankert waren
und die Osteuropa zwangsläufig einem erstarkenden Deutschland
auslieferten, wurden nach dem 2. Weltkrieg mit anderem Vorzeichen
wiederholt und Osteuropa an Rußland verschachert. Die ungarische
Oktoberrevolution stellte schließlich auch die imperialistische
Aufteilung der Welt in Jalta und Potsdam in Frage, was sich deutlich
zeigt, wenn die ungarischen Ereignisse mit dem politischen Schauspiel,
das England, Frankreich und Israel am Suezkanal aufführten.
2. Vorgeschichte und Ursachen der Revolution
Der sozialistische Charakter der Revolution in Ungarn, wie ich ihn oben
an Hand ihrer Träger, der Arbeiterräte, skizziert habe, setzt die
Existenz einer herrschenden Klasse voraus.
Stalin machte seine und damit die großrussische Vorherrschaft in
Osteuropa sehr bald deutlich. In Ungarn ließ er bereits im Dezember
1944 eine Regierung in Debrecen bilden.
Innerhalb der kommunistischen Partei Ungarns lassen sich drei Gruppen
identifizieren: einmal die Moskowiter, welche die dreißiger und
vierziger Jahre in Moskau verbracht hatten und Zeugen der Säuberungen
waren, dann die Emigranten, Kommunisten, die im westlichen Ausland
gelebt hatten und mit der Vertreibung der Nazis nach Ungarn
zurückkehrten und schließlich einige Illegale, welche das Horthy-Regime
und den Krieg in Ungarn überlebt hatten. Mit der Regierungsgründung in
Debrecen war den Moskowitern innerhalb der kommunistischen Partei in
Ungarn von vornherein die führende Stellung gesichert.
Nach dem Sieg über Deutschland wurde in Ungarn, wie in den anderen
Ländern Osteuropas, außer Jugoslawien, eine Koalitionsregierung
mehrerer Parteien gebildet. Die ersten freien Wahlen in Ungarn endeten
für die kommunistische Partei mit einem Fiasko: die MDP erhielt nur 17
Prozent der Stimmen. Die bürgerliche Demokratie aber war nur ein
Mäntelchen, hinter dem die von Moskau aus gelenkte „kommunistische“
Partei ihre Herrschaft im ungarischen Staat errichtete. Zuerst wurden
die Vertreter der Kleinlandwirtepartei eingeschüchtert, verhaftet und
ermordet, später diese Prozedur auf die Sozialdemokraten ausgeweitet.
Diejenigen, die sich einer Vereinigung mit der MKP widersetzten,
mußten emigrieren oder wurden verhaftet. Schließlich erfaßte die
Repression auch die Kommunistische Partei selbst, d.h. alle diejenigen,
welche den moskowitischen Führern suspekt erschienen, v.a. die
„Illegalen“ und die „Emigranten“. Für diese Politik prägte der „beste
Schüler Stalins“, Mátyás Rákosi, das berühmt gewordene Wort:
‚Salamitaktik’. 1948 traf die Verfolgung und Säuberung die Partei
selbst und den ehemaligen Innenminister, László Rajk. Ähnlich den
Schauprozessen der 30er Jahre in Moskau gegen die alten Bolschewiki
wurde er gefoltert, unter falschen Anschuldigungen verurteilt und
schließlich gehängt.
Einer der wichtigsten Pfeiler der Herrschaft dieser sich nur noch
kommunistisch nennenden Partei war der Geheimdienst (Államvédelmi
Valoseg Hátoság, AVH). Über den Charakter der gefürchteten ungarischen
Geheimpolizei gibt Pál Demény eine eindrucksvolle Schilderung.
Ernö Szücs, den ersten Stellvertreter des Chefs der Geheimpolizei,
Péter Gabor, überkamen schließlich Skrupel angesichts seiner Tätigkeit
als Folterknecht, und er schrieb an Beria (einer der drei Mächtigen im
Kreml nach Stalins Tod 1953) einen Brief. Es sei doch schließlich nicht
in Ordnung, daß Rákosi und seine Leute so viele alte Kommunisten
verhafteten und so viele der besten Kämpfer gefoltert und ermordert
würden. Beria hatte nichts Eiligeres zu tun, als Rakosi anzurufen, der
Szücs sofort verhaften ließ und sich persönlich erkundigte, wann Szücs
von seiner Geheimpolizei erschlagen worden sei. Während der Horthy-Ära
waren beide gute Freunde gewesen und hatten mehrere Jahre gemeinsam im
Gefängnis verbracht.
Über Rákosi berichtet der Schriftsteller Béla Szász:
„So hat er sich beispielsweise, nachdem 1950 die Verhaftung von Arpád
Szakasits, dem Präsidenten der Volksrepublik Ungarn, bereits
beschlossene Sache war, zu diesem zum Abendessen einladen lassen. Beim
Abschied sagte er unvermittelt: >Arpád, jetzt kommt die schwarze
Suppe!< Diese Äußerung entspricht im Ungarischen einer Todesdrohung.
In der Zeit der Türkenbesatzung nämlich war Bálint Török, ein
ungarischer Fürst, als Parlamentär bei den Türken zu Gast. Und als der
schwarze Kaffee serviert wurde, also die >schwarze Suppe<, wurde
er festgenommen und für den Rest seines Lebens eingekerkert.“
Die Angst vor der Geheimpolizei erfaßte in diesen Jahren fast alle
Lebensbereiche der Gesellschaft. Hinzu kamen die enormen
wirtschaftlichen Schwierigkeiten, mit denen Ungarn zu kämpfen hatte.
Auch Ungarn hatte einen hohen Preis im Weltkrieg bezahlt. 400000 Tote,
Schäden in Höhe von 4,3 Mrd $, was dem zweifachen Wert des
Bruttosozialprodukts von 1938 entsprach. Dabei war Ungarn vor allem ein
Agrarland mit wenig Industrie und kaum bedeutenden Rohstoffen. Ungarn
war wie Polen im 17. und 18. Jahrhundert Objekt der zweiten
Leibeigenschaft gewesen, weshalb die Lebensverhältnisse auf dem Land
ganz besonders miserabel waren. Die Aufhebung der Leibeigenschaft unter
der K u. K.-Monarchie änderte nur wenig an den kaum erträglichen
Lebensverhältnissen. Noch in den 30er Jahren wurden die Knechte
üblicherweise geschlagen. Mehr als die kleinen Bauern litten unter den
erbärmlichen Verhältnissen auf dem Land die Landarbeiter und das
Gesinde.
Kaum 300 Großgrundbesitzer verfügten über halb so viel Land wie 1,6
Millionen bäuerliche Grundbesitzer. Diesen zuzurechnen waren aber noch
200000 Knechte und über eine halbe Million Tagelöhner, die unter
elenden Verhältnissen lebten. Der Hunger war eine alltägliche
Erscheinung auf dem ungarischen Land und eine Landreform mehr als
überfällig. Der erste Versuch einer umfassenden Landreform, noch unter
der Diktatur Horthy in den 20er Jahren, scheiterte am Widerstand der
Großgrundbesitzer, wie dem des Fürsten Esterhazy.
Die „Kommunisten“ erkannten darum nur zu recht, wie notwendig eine
grundlegende Landreform war, allein, um die Sympathien der Bevölkerung
zu erlangen. Eine ihrer ersten Maßnahmen bestand darum in der
Aufteilung des Bodens unter die kleinen Bauern und die bisher
grundbesitzlosen Landarbeiter. Allerdings genügte die verfügbare
nutzbare Bodenfläche kaum, um die Bedürfnisse zu befriedigen. Es fehlte
an Maschinen, Wissen und modernen Produktionsformen. Die entstandenen
Betriebsgrößen reichten kaum für ein leidliches Auskommen. Andrerseits
erwies sich die relative Überbevölkerung auf dem Land als ein Plus für
den massiven Ausbau der Schwerindustrie, wie es die stalinistische
Doktrin vorsah. Die überzählige Landbevölkerung stellte die
Arbeitskräfte für die neuen Industriezentren, die aus dem Boden
gestampft wurden, wie etwa Sztálinváros, heute Dunapentele, südlich von
Budapest.
Doch diese massive und unüberlegte Industrialisierung Ungarns wurde zur
zweiten Hypothek der neuen Herrschaft. Dieser Wirtschaftsaufbau konnte
nur mit einer massiven Ausbeutung der Arbeitenden in Stadt und Land
finanziert werden. Bis zu 25% des Nationaleinkommens wurde in die
Industrialisierung investiert. Niedrige Preise für die Agrarprodukte
der Bauern, niedrige Löhne für Industriearbeiter und eine heftige
Inflation waren die notwendigen Begleiterscheinungen. Ein solcher
Gewaltakt setzte natürlich eine starke staatliche und wirtschaftliche
Zentralisation voraus. Industrie und Banken waren verstaatlicht, die
Gewerkschaften aus Vertretungen der Arbeiter in deren Kontrollorgane
verwandelt. Akkordarbeit und ‚Stachanov’ waren weit verbreitet. Dazu
trat, daß man ab 1949 mit der Zwangskollektivierung der Bauern begann,
denen man wenige Jahre zuvor noch Land zugeteilt hatte. Unsicherheit
breitete sich aus. Die neu gebildeten Kollektive litten oft unter der
schlecht funktionierenden Bürokratie; die Maschinen waren oft nicht
verwendbar, es fehlte an Ersatzteilen, an Dünger usw. Außerdem waren
die Zwangsabgaben der Kollektive an den Staat sehr hoch und die Bauern
darum wenig motiviert übermäßig zu arbeiten, da es für sie keinen
Nutzen erbracht hätte. Der Zusammenbruch der Landwirtschaft war
vorauszusehen. 1950/51 drohte eine Hungersnot. Diese miserable
Agrarpolitik trieb Hunderttausende in die wenigen Städte, wo sie die
Arbeitskräfte für die neugeschaffene Schwerindustrie stellten.
Allerdings fehlte es an Wohnungen.
Der neue Kurs
Im Juli 1953 machte Moskau den früheren Landwirtschaftsminister Imre
Nagy zum neuen Ministerpräsidenten. Nach dem Tode Stalins, dem
Arbeiteraufstand in Ostdeutschland und den Arbeiterdemonstrationen in
der ČSSR und Polen, war auch der Führung in Moskau die Notwendigkeit
einiger Korrekturen einsichtig. Ministerpräsident Imre Nagy [sprich:
Nodsch] verkündete eine Abkehr von der bisherigen Ausrichtung auf die
Schwerindustrie. Er wollte mehr Konsumgüter produzieren lassen und die
Leichtindustrie fördern. Die Kollektivierungsbewegung sollte
verlangsamt werden. Bereits auf die Ankündigung hin schritten viele
ehemalige Bauern zur Eigeninitiative und lösten ein Drittel der
Zwangskollektive auf. Dies allein beweist, wie verhaßt diese
Einrichtungen gewesen waren.
Überdies setzte Nagy den ungarischen Arbeitslagern ein Ende und
lockerte die politische Gängelung des ungarischen Volkes. Literarische
Werke und kulturelle Veranstaltungen wurden nicht mehr so streng
zensiert wie vorher, das intellektuelle Ungarn atmete auf. Trotzdem
hatte sich für die Masse der Bevölkerung kaum etwas verändert. Die
Reformen, die Nagy im Juli 53 angekündigt hatte, machten ihn weniger
beliebt als sein zähes Ringen, sie durchzusetzen. Seine Macht war
begrenzt durch das Politbüro der kommunistischen Partei Ungarns, dessen
Generalsekretär immer noch Mátyás Rákosi [sprich: Matiasch Rakoschi]
war. Dieser nutzte seine Positionen weidlich, um alle Reformbemühungen
von Nagy zu hintertreiben, was ihm schließlich im Winter 1954, nachdem
Nagy einen Herzanfall erlitten hatte, gelang.
Aber die Zeit war nicht stehengeblieben. Viele der entlassenen
Gefangenen brachten ihre Erfahrungen der Gefangenschaft mit. Die Kluft
zwischen der Propaganda des sozialistischen und glücklichen Ungarns und
der gelebten Wirklichkeit wurde immer deutlicher wahrgenommen und – was
wichtiger war – die Propaganda besser verstanden als die nackte
Heuchelei, die sie war zum Behufe, die Herrschaft der „neuen Klasse“ zu
verdecken. 1956 mußte Rákosi endgültig weichen. Mit seinem Rücktritt
hätte nun die Möglichkeit bestanden, der wachsenden Unzufriedenheit
Rechnung zu tragen und den beliebten Imre Nagy wieder zum
Regierungschef zu machen. Dies aber wurde in Moskau versäumt.
Im Juni gelangten Nachrichten über die Arbeiterproteste von Posen nach
Ungarn, mit großem Interesse verfolgt wurden. Mit diesen Nachrichten
wurden die polnischen Arbeiterräte, die kurz zuvor gebildet wurden,
auch in Ungarn populär. Bei vielen Versammlungen in Ungarn, die dem 23.
Oktober voraus gingen, stand die Frage der Solidarität mit den
polnischen Arbeitern im Mittelpunkt.
3. Abriss des Revolutionsgeschehens
Die Ereignisse nahmen ihren Anfang mit einer Reihe von
Studentenversammlungen, beginnend in Szeged [sprich: Sägäd], wo bereits
am 19. Oktober 1956 der Austritt aus dem „kommunistischen“
Studentenverband beschlossen wurde. In Budapest stieß die Initiative
auf breite Zustimmung und eine große Versammlung am 22. Oktober, die in
der Akademie der bildenden Künste tagte, wiederholte den Austritt aus
der „kommunistischen“ Studentenvereinigung und die Gründung eines
unabhängigen Verbandes. Die Studenten verfaßten eine Resolution, worin
u. a. verlangt wurde:
- Abzug der russischen Truppen,
- Imre Nagy solle Ministerpräsident werden,
- Rákosi vor Gericht,
- Streikrecht und Mindestlöhne,
- Rede-, Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Überhaupt spielte gerade der intellektuelle Widerstand, wie er sich besonders im Petöfi-Club äußerte, eine wichtige Rolle.
Die Großversammlung der Technischen Universität beschloß für den
kommenden Tag, den 23. Oktober, eine Großdemonstration als
Schweigemarsch durchzuführen.
Am Vormittag war der Nachfolger Rákosis, Ernö Gerö, von seiner Reise
nach Jugoslawien zurückgekehrt. Gerö hatte sich bereits während des
spanischen Bürgerkriegs mit seiner Tätigkeit für den russischen
Geheimdienst profiliert. Vermutlich auf sein Konto geht die
Organisation der Ermordung Andreu Nins, des Führers der marxistischen
POUM.
Gerö verbot diese Demonstration. Um 14h23, eineinhalb Stunden nach der
Verbotsverfügung, mußte das Politibüro seinen ersten Rückzieher machen
und hob das Verbot auf, das man mit Waffengewalt hatte durchsetzen
wollen. Zum ersten Mal seit vielen Jahren wurde sich das Volk in
Budapest seiner eigenen Macht bewußt.
Der großen Demonstration schlossen sich gegen Nachmittag Arbeiter und vereinzelt Kadetten der Militärakademien an.
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Gegen 21 Uhr wurde vor dem
Rundfunkgebäude auf die Menge geschossen, vermutlich von Heckenschützen
der Geheimpolizei, wie wir es aus Rumänien 1989 und Jugoslawien kennen.
Weitere Ereignisse steigerten die Erregung. Die Menge bemächtigte sich
der Waffen und erwiderte das Feuer. Heranrückendes ungarisches Militär
fraternisierte mit ihr. An anderer Stelle wurde das monumentale
Stalindenkmal mit vereinten Kräften von Studenten und Arbeitern
gestürzt. Was als eine friedliche Demonstration begann, hatte sich in
einen bewaffneten Aufstand verwandelt.
Um 2h00 nachts erschienen plötzlich zwei russische Panzerdivisionen in
der ungarischen Hauptstadt. Wer diesen Einmarsch veranlaßt hatte, ist
bis heute nicht restlos geklärt worden. Jedenfalls verwandelte ihre
Einmischung den Aufstand gegen Regierung und Geheimpolizei in einen
nationalen Kampf gegen die Sowjetunion. Die ungarische Regierung
entlarvte sich zusehends als bloßer Erfüllungsgehilfe des Willens
Moskaus. Wie seinerseits 1870/71 das französische Bürgertum ihre
Eigeninteressen über diejenigen Frankreichs stellte und mit Bismarck
paktiert hatte – siehe Marxens Schrift ‚der Bürgerkrieg in Frankreich’
– stellte jetzt die ungarische Führung ihre Herrschaftsinteressen über
die nationalen Interessen des ungarischen Volkes. Dies bedeutete für
die Arbeitenden Ungarn, daß sie den Kampf gegen die russischen
Machthaber aufnehmen mußten, wollten sie sich von ihrer eigenen
herrschenden Klasse befreien. Die soziale Befreiung setzte die
nationale Unabhängigkeit voraus. Allerdings war von der herrschenden
Klasse in Ungarn nur wenig übrig geblieben. Quasi über Nacht hatte sich
die kommunistische Partei aufgelöst, das Militär versagte bald die
Gefolgschaft und selbst die Polizei Budapests mitsamt ihrem jungen
Präsidenten wechselte schon wenige Tage später die Seiten.
Tatsächlich war der Widerstand so überraschend und erbittert, daß er
die beiden russischen Panzerdivisionen zum Rückzug aus Budapest zwang.
Auch in anderen Orten Ungarns war es zu bewaffneten Kämpfen gekommen,
meist im Anschluß an blutige Massaker der Geheimpolizei, wie dem zu
traurigem Ruhm gekommenen in Mosonmadyaróvár. Aber selbst das
sowjetische Militär wurde angesichts der Geschlossenheit des
Widerstandes unsicher und verweigerte, wie in Györ, den Befehl und
verblieb in seinen Kasernen.
Am 24. Oktober war Imre Nagy endlich vom Politibüro zum neuen
Ministerpräsidenten bestimmt worden. Aber seine Haltung gegenüber der
Aufstandsbewegung war nicht eindeutig. Erst am 28. Oktober bekannte er
sich zu den Forderungen der Revolution. Er saß sprichwörtlich zwischen
zwei Stühlen: Auf der einen Seite der scheidende Parteiapparat, dem
sein Leben und sein Denken gewidmet war, und auf der anderen Seite das
aufständische Volk, dem sein Herz und seine Sympathie gehörten. Er
wollte eine Brücke sein zwischen zwei unüberbrückbaren Gegensätzen.
Überall im Land bildeten sich Arbeiterräte, die die Leitung in den
Fabriken wie auch in den Städten und Kreisen übernahmen. Teilweise
begann man schon mit dem Aufbau überregionaler Räteorganisationen.
Neben diesen Räten bestand die Regierung Nagy, deren Legitimität die
Räte nur anerkennen wollten, wenn sie, d.h. Nagy, sich zur Revolution
und ihren wichtigsten Forderungen bekennt. Zuerst forderten die sich
überall im Land bildenden Arbeiterräte den sofortigen Abzug der
sowjetischen (russischen) Truppen, dann die Neutralität Ungarns.
Innenpolitisch wurde die Beseitigung des verhaßten und gefürchteten
Geheimdienstes verlangt, die Bestrafung der Rákosi-Gerö-Clique,
bürgerliche Freiheiten und freie Wahlen. Es erwies sich sehr bald, daß
das Versprechen freier Wahlen abzuhalten, was ein Mehrparteiensystem
impliziert, sowie und vor allem der Austritt aus dem Warschauer Pakt,
die Schmerzgrenze für die Sowjetunion bildeten.
Am 30. Oktober gibt Imre Nagy das Ende der Einparteienherrschaft in
Ungarn bekannt, am 1. November verkündet er den Austritt aus dem
Warschauer Pakt und erklärt Ungarn für neutral.
Die Entscheidung für diesen Schritt dürfte Nagy nicht leicht gefallen
sein, obwohl sie manchen Vorstellungen, die er in den Jahren zuvor
entwickelt hatte, nahe kam. Erklärbar ist der Schritt nur auf dem
Hintergrund des Druckes, der von seiten der Arbeiterräte auf ihn
ausgeübt wurde. Man mag zwar einwenden, die neue auf Nagy vereidigte
Armee hätte mit den Aufständischen fertig werden können, sein Nachgeben
sei darum nicht unbedingt notwendig gewesen. Tatsächlich aber befand
sich ganz Ungarn seit dem 24./25. Oktober im Generalstreik und die
Arbeiterdelegationen, die Nagy erreichten, machten deutlich, daß
nationale Unabhängikeit und die Garantie demokratischer Grundrechte
Vorbedingung der Arbeitsaufnahme seien, wenngleich sie auch
versicherten, die Produktionsmittel nicht in private Hände überführen
zu wollen. Im Gegenteil, man wollte aus der Fiktion des Volkseigentums
– das in Wirklichkeit in der Verfügungsgewalt der herrschenden Klasse
in Ungarn (und der Sowjetunion) lag – eine Wirklichkeit machen und in
das kollektive Eigentum der Arbeiter überführen.
Nagy besaß nicht die eigentliche Macht. „Die Regierung übte damals
nicht die tatsächliche Macht aus, sie war nicht Herr der Lage, sie
hinkte vielmehr den Ereignissen hinterher. Der Austritt aus dem
Warschauer Pakt war sozusagen der einheitliche Wunsch des Volkes“,
urteilte ein enger Vertrauter des Ministerpräsidenten.
Am 30. Oktober brachten Suslov und Mikojan ein Schreiben aus Moskau
nach Budapest, worin der Rückzug der russischen Truppen aus Ungarn in
Aussicht wurde und die Möglichkeit eines Austritts aus dem Warschauer
Pakt angedeutet war.
In der Veröffentlichung der Tass vom 30. Oktober konnte man lesen:
Die Beziehungen der „sozialistischen Nationen“ seien „auf den
Prinzipien der völligen Gleichberechtigung, der Achtung der
territorialen Integrität, der staatlichen Unabhängigkeit und
Souveränität, der gegenseitigen Nichteinmischung in die inneren
Angelegenheiten“ aufgebaut.
„Zur Gewährleistung der gegenseitigen Sicherheit der sozialistischen
Länder ist die Sowjetregierung bereit, mit den anderen sozialistische
Ländern, die Signatare des Warschauer Vertrages sind, die Frage der auf
den Territorien der oben genannten Länder (Polen, Ungarn, CSSR,
Rumänien) befindlichen Sowjettruppen zu erörtern. Hierbei geht die
Sowjetregierung von dem allgemeinen Prinzip aus, daß die Stationierung
von Truppen dieses oder jenes Teilnehmerstaates des Warschauer
Vertrages auf Vereinbarung zwischen allen seinen Teilnehmern erfolgt
und nur mit Zustimmung des Staats, auf dessen Territorium seinem
Ersuchen gemäß diese Truppen stationiert sind, bzw. stationiert werden
sollen.“
Imre Nagy schien seinem Ziel nahe. Akzeptierte die Sowjetunion den
Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt würden die Arbeiterräte ihm
ihr volles Vertrauen entgegen bringen. Umgekehrt würde dieses Vertrauen
ihn der sowjetischen Führung gegenüber als die Regierung erscheinen
lassen, welche die Fortführung der ungarisch-sowjetische Partnerschaft
garantiert. Vielleicht dachte Nagy, daß er auf dieser Grundlage die
Fäden seiner alten Wirtschaftspolitik wieder aufgreifen könnte. Der
Erfolg schien nahe. Tatsächlich aber dachte man in Moskau gar nicht
daran, die Zügel in Ungarn schleifen zu lassen. Bereits ab dem 30.
Oktober wurden neue Truppen nach Ungarn verschoben, d.h. noch vor der
öffentlichen Erklärung Imre Nagys über der Austritt Ungarns aus dem
Warschauer Abkommen.
Hätte die russische Machtpolitik eine solche Unabhängigkeit dulden
können? Natürlich nicht. Tibor Meray, ein Teilnehmer der Ereignisse
erläutert: „War Ungarn erst einmal aus dem Warschauer Pakt
ausgeschieden, welche Argumente wären übrig geblieben, um Polen und
Tschechen bei der Stange zu halten? Hätten diese dann die gleiche
Forderung erhoben? Ungarns Wünsche zu befriedigen hätte zweifellos
bedeutet, Unabhängigkeitserwartungen in Lettland, Litauen und Estland
zu erwecken, die auf den nationalen Druck hin eben erst autonome
Republiken innerhalb der Sowjetunion geworden waren. Damit würden auch
die nationalistischen Gefühle in der Ukraine genährt, in Georgien und
Weißrußland.“ Die Anerkennung des Rechts auf nationale
Selbstbestimmung im Geiste Lenins vor Gründung der Sowjetunion, hätte
die Grundlage des alten und neuen russischen Imperialismus
unterminiert, der in der Unterwerfung fremder Völker bestand. Die
ungarischen Arbeiterräte hatten allein durch ihr praktisches Dasein die
Grundfeste und Prinzipien des russischen Imperialismus in Frage
gestellt.
Mit diesem Schreiben, dem Danaergeschenk aus Moskau, verkündete Imre
Nagy den „Erfolg“ seiner Wankelpolitik. Ungarn feierte den Sieg der
Revolution. Aber dieses Dokument war nicht sein Papier wert. Am 31.10.
bereits berichtete Radio Miskolc [sprich: Mischkolz] von russischen
Truppenbewegung in Richtung Ungarn und Budapest. Die Erklärung vom 30.
10. erwies sich als Lüge, einzig zu dem Zweck bestimmt, Zeit zu
gewinnen und sowohl Ungarn als auch Polen hinters Licht zu führen. Zwar
gab Chrustschow 1958 bekannt, daß der Entscheidung über die
Intervention in Ungarn harte Kämpfe vorausgegangen seien, trotzdem war
bereits Wochen vor dem ungarischen Oktober mit der Bildung besonderer
Militäreinheiten begonnen worden. Am 3. November fand sich Budapest
faktisch vom restlichen Ungarn abgeschnitten. Die Invasionstruppen
umfaßten ca.100000 Soldaten und 2500 Panzer. Drei Viertel hiervon
wurden allein für den Angriff auf Budapest verwendet.
Die großrussische Politik gegenüber Ungarn in diesen Tagen ist ein
Meisterstück an Gauklerei gewesen. Offene Lügen, Drohungen, „man könne
ja auch anders“, bis hin zu gespielten Verhandlungen, um die ungarische
Delegation in eine Falle zu locken, wechselten einander wie kurze
Szenen eines Schaustücks ab. Als Nagy von den Truppenverschiebungen
erfuhr, versuchte er mit Mikoyan in Moskau zu telefonieren, was ihm,
dem Ministerpräsidenten, brüsk verweigert wurde. In einem Telegramm an
den Obersten Sowjet verlangte er Erklärungen. Diese erhielt er über den
sowjetischen Botschafter Andropow. „Wir waren immer bereit, über den
Rückzug der Truppen zu verhandeln“. Am 1. November leugnete der
Botschafter, irgend etwas von den Truppenverschiebungen zu wissen. Ein
Versprechen, daß keine weiteren Truppen in Richtung Ungarn in Bewegung
gesetzt würden, mochte er aber nicht geben. Dagegen würde er sich für
Nagy bei seiner Regierung verwenden. Am Morgen des 3.11. wurde im
Parlamentsgebäude verhandelt. Die „sowjetische“ Seite ließ
durchblicken, daß prinzipiell alles geregelt sei, einzig technische
Details seien noch zu klären, wie etwa die ehrenvolle Verabschiedung
der russischen Truppen aus Ungarn. Hierfür wurde die ungarische
Delegation unter Pál Maleter ins sowjetische Hauptquartier bei Tokol,
nahe Budapest, eingeladen. Wenige Minuten, nachdem sie dort
eingetroffen war, wurde die Delegation vom Verhandlungstisch weg
verhaftet und Maleter später hingerichtet.
Im Morgengrauen des 4. November, ein Sonntag, begann der zweite Angriff
der russischen Truppen auf Budapest und Ungarn mit dem Ziel, Imre Nagy
von der Regierung zu entfernen und Ungarn wieder zu einem gefügigen
Satelliten Rußlands zu machen. Imre Nagy begab sich in die
jugoslawische Botschaft, nicht bevor er über Radio bekannt gab, daß
sich Ungarn im Kriegszustand befände. Einen Befehl als
Ministerpräsident an die ungarische Nationalgarde, die Kampfhandlungen
gegen die Invasion aufzunehmen, wie es der Oberbefehlshaber General
Király und andere forderten, gab er aber nicht. Natürlich läßt sich
heute spekulieren über das berühmte „wenn“, wenn Ungarn sich in einen
großen revolutionären Krieg begeben hätte. Und ebenso natürlich möchte
man heute das mutige Beispiel der 2 Millionen Tschetschenen heranziehen
die bald 20 Jahre den russischen Bären in Atem halten. Unabhängig vom
hohen Blutzoll den das kleine Volk dafür bezahlt, kann man die Skrupel,
die Imre Nagy beim Gedanken an einen Krieg mit der Sowjetunion hatte,
nachvollziehen. Andrerseits war es nicht unwahrscheinlich, daß sich
damals andere Völker Osteuropas, etwa die Polen, dem Beispiel Ungarns
angeschlossen hätten. Wie dem auch gewesen sein wäre, in Ungarn wurde
derlei Gedanken theoretisch kaum und praktisch überhaupt nicht
durchdacht. In dieser nationalen Begrenzung sehe ich eine der Schwächen
der ungarischen Revolution aber es ist nicht das erste Mal, daß eine
ungarische Revolution an ihren Grenzen halt macht und damit ihren
Niedergang besiegelt. Man denke an die Scheu Görgeys im Frühjahr 1849
mit der ungarischen Revolutionsarmee auf Wien vorzustoßen oder den
nationalen Chauvinismus der die ungarischen Truppen Béla Kuns bei ihrem
Marsch in die Slowakei 1919 begleiteten.
Mit allen möglichen Tricks und offenen Lügen und mit Hilfe der naiven
Leichtgläubigkeit Imre Nagys war es den „Sowjets“ gelungen, Ungarn
militärisch zu besetzen und jeden militärischen Widerstand von
vornherein aussichtslos zu machen. Trotzdem dauerten die Kämpfe in
Budapest bis zum 11.11. und vereinzelt noch bis Ende des Monats. Der
Widerstand der ungarischen Arbeiter aber war nicht gebrochen. Die
zweite Intervention verhinderte den Ausbau der
Arbeiterselbstverwaltung, beschleunigte aber die Rätebewegung.
4. Die Arbeiterräte
Sie allein sind der Schlüssel zum Verständnis der Revolution, sie
drücken ihr den Stempel auf, wie es der Vorsitzende des Großbudapester
Arbeiterrates, Sándor Báli, formulierte. Einige Stellungnahmen aus der
historischen Literatur mögen dies verdeutlichen:
Oskar Anweiler schreibt:
„Die Räte entstanden unmittelbar im Kampf gegen die örtliche
Sicherheitspolizei (AVO) und übernahmen nach deren Beseitigung die
ihnen zufallende vollziehende Gewalt.“
„Gleichzeitig übernahmen die Arbeiterräte Schritte in Betrieben, zur Verwirklichung der Fabrikdemokratie.“
Ernö Kiraly in dem besten deutschsprachigen Werk zu den Arbeiterräten äußert:
„Die Arbeiterräte im Osten entstehen alle im Kampf gegen Bürokratie und Stalinismus.“
…“Die Zusammensetzung der Räte weist drei Tendenzen auf:
– Ablehnung diktatorischer Maßnahmen
– tiefe Verbundenheit mit Demokratie und Sozialismus
– Aktivierung der besten Fachleute für erfolgreiche
wirtschaftliche Führung der Fabriken.“
Die Stärke des Widerstandes gegen die Regierung Kádár ab dem 4.11. war
abhängig vom Grad der territorialen Organisation der Arbeiterräte. Die
Machtübernahme Kádárs stieß in jenen Städten auf den größten
Widerstand, wo während der Revolution übergeordnete Organe der
Revolution geschaffen wurden.
Bericht des Sonderausschusses der Vereinten Nationen zu Ungarn:
„Das Auftauchen von Revolutionsräten und Arbeiterräten war einer
der besonderen charakteristischen Zügen des Aufstandes. Es stellte den
ersten praktischen Schritt dar, die Ordnung wiederherzustellen und die
ungarische Wirtschaft auf sozialistischer Grundlage zu organisieren,
jedoch ohne strenge Parteikontrolle oder Terrorsystem.“
François Manuel:
„In der Provinz hatte die Revolution mit einem Generalstreik begonnen,
der durch die Nachricht der russischen Intervention ausgelöst wurde. Er
war der unmittelbare Ausdruck jener Konstitution der Arbeiterräte,
welche die Macht übernehmen. Für das erste Mal seit Jahrzehnten
erfanden die ungarischen Arbeiter wieder spontan die
Organisationsformen der Arbeitermacht. Sie befanden sich in der
Tradition der Sowjets von 1905 und 1917, wie der 1. ungarischen
Räterepublik.“
5. Phasen der Rätebewegung
Die ungarische Rätebewegung läßt sich in vier Phasen einteilen:
1. Entstehung und ihre Rolle während der Revolution vom 24.10. bis zum 4.11.56
2. Auseinandersetzung mit der Regierung Kádár. 4.11. bis zur Auflösung des zentralen Budapester Arbeiterrates am 9.12.56.
3. Rückzug der Arbeiterräte bis zur Selbstauflösung des Arbeiterrates von Csepel bis zum 10.1.57.
4. Die Zeit bis zur endgültigen Auflösung der Arbeiterräte am 30.9.57
Besonders interessant ist das Phänomen der zweiten Phase: in Ungarn
scheinen sich die Arbeiterräte erst unter der militärischen Präsenz der
russischen Macht richtig entwickeln zu wollen.
6. Entstehung und Ausbreitung der Arbeiterräte
Nach dem 24. Oktober bildeten sich völlig spontan und mit ungeheurer
Geschwindigkeit im ganzen Land Arbeiterräte, die je nach den
Kräfteverhältnissen die öffentliche Verwaltung übernahmen oder
zumindest kontrollierten.
Aber die Arbeiterräte entstanden nicht völlig geschichtslos. Abgesehen
von der Erfahrung der ungarischen Räterepublik gab es nach dem 2.
Weltkrieg in den Fabriken sogenannte Betriebskomitees, die allerdings
nur kurzlebig waren und nach 1948 wieder schnell an Bedeutung verloren
hatten. Aber die Erinnerung an die Demokratie dieser Betriebskomitees
war sicherlich noch frisch. Verstärkt wurde die Erinnerung durch die
Arbeiterräte Jugoslawiens. Chrustschow hatte eine Annäherung zu Tito
gesucht und dadurch Ungarn die Bekanntschaft mit der
„Arbeiterselbstverwaltung“ Jugoslawiens geebnet.
Erste Forderungen nach Arbeiterräten wurden bereits vor der Revolution
innerhalb des Petöfi-Kreises und des Schriftstellerverbandes geäußert.
Auch der Nationalrat der ungarischen Gewerkschaften beschäftigte sich
im September mit Forderungen der Arbeiter nach räteähnlichen
Organisationen. Außerdem wurden die Ereignisse in Polen mit
außerordentlicher Aufmerksamkeit verfolgt.
Als der erste Arbeiterrat der Revolution gilt derjenige, der Budapester
Vereinigten Lampenfabrik vom 24.10.(Egyesült Izzo). Sein Programm:
1. Entlassung leitender Elemente der Stalin-Rákosi-Ära
2. Absetzung solcher Personen, die für Führungsaufgaben ungeeignet sind.
3. Ernennung des Betriebsdirektors und seines Stellvertreters
4. Abschaffung der Personal- und Kaderabteilung
5. Der Arbeiterrat überprüft die angeschwollene Bürokratie
6. Die Streiktage werden vergütet.
7. Sofortige Lohnerhöhung um 15% für Gehälter unter 800 Forint
8. Neues Prämiensystem
9. Werksräte werden gebildet.
10. Alle Arbeiter sollen Vorschläge formulieren dürfen.
Außerhalb der Hauptstadt begann die Bildung der Arbeiterräte am 25.10.
Sie sind für die großen Industriestädte Györ, Miskolc, Sztálinváros,
dokumentiert ebenso wie für Debrecen.
„Binnen drei Tagen wurden im ganzen Land in den Fabriken, Bergwerken
und sonstigen Betrieben provisorische Arbeiterräte gebildet.“
Provisorisch deshalb, weil die Arbeiter davon ausgingen, daß ihr
authentischer Wille erst dann festgestellt werden kann, wenn auch
diejenigen, die an den Kämpfen teilnehmen, anwesend sein können.
Wenige Tage später schon wurden territoriale Räte geschaffen, die zum
Teil die Herrschaft übernahmen und die Aufgaben der öffentlichen
Verwaltung erfüllten. Beispielsweise der (provisorische) Transnubische
Nationalrat in Györ oder der Arbeiterrat des Bezirkes Borsod.
In der Provinz hatten sich die Arbeiterräte ebenso wie in der
Hauptstadt im Anschluß an friedliche Demonstrationen und die Kämpfe
gegen Heckenschlützen der Geheimpolizei gebildet. Bald wurden Gefangene
befreit und mit der Bildung des ersten Gesamtrates der Stadt waren die
Stützen der alten Gesellschaft, Partei und Verwaltungsapparat,
zusammengebrochen. So war es nur konsequent, daß diese Räte die
politische Gewalt übernommen haben, sei es, daß sie dies öffentlich
erklärten oder nur einfach vollführten. Ihre vornehmlichste Aufgabe
bestand in der Organisation des Streiks. Bald begannen die Arbeiterräte
in den Fabriken die Funktionen zu übernehmen, welche früher von den
Gewerkschaften und den Organisationen der kommunistischen Partei
ausgeübt wurden. Abteilungs- und Personalchefs wurden fast überall
entlassen und neue Führungspersonen durch die Arbeiterräte gewählt. Bei
Györ an der österreichischen Grenze bildeten sich Soldatenräte
innerhalb der ungarischen Armee und wählten ein revolutionäres
Militärkomitee. Am 27.10. erklärte der Nationalrat in Györ, daß
völlige Ordnung und Disziplin herrsche, was bedeutete: er verkörpere
die neue politische Ordnung. Drei Tage später fanden sich in Györ die
Delegierten zur Bildung des Transdanubischen Nationalrates ein.
Sowohl die Regierung Nagy als auch die Führung der Gewerkschaften
riefen wenige Tage nach dem 24. 10. ihrerseits zur Bildung von
Arbeiteräten auf, da sie nicht allen Einfluß auf die Bewegung verlieren
wollten. In einer Resolution des ZK der Partei soll der Arbeiterrat
über alle wichtigen Fragen der Produktion entscheiden und den
Produktionsplan entwerfen. Er verfügt über die Investitionen ebenso wie
er Fragen sozialer Leistungen des Betriebs entscheidet. Natürlich
wollte sich die neue Regierung an die Spitze der Bewegung stellen.
„Durch die Organisierung von Arbeiterräten zum Schutz der Fabriken kann
unsere Arbeiterklasse dem neuen Polititbüro der Partei und der neuen
Regierung ihre Unterstützung leihen bei Errichtung der Ordnung wie beim
Beginn der Aufbauarbeit unter neuen Bedingungen.“ Der Versuch aber
scheiterte: „Die Aktivität der Arbeiterräte entwickelte sich in einer
gänzlich anderen Richtung, als ihnen Parteileitung und Präsidium des
Dachverbandes der Gewerkschaften zugedacht hatten. Die Arbeiterschaft
lehnte die Versuche einer Bevormundung ab. Die Arbeiterräte bildeten
sich spontan, ohne jede Vorbereitung oder Einmischung von außen, und
sie führten bis zu ihrer Auflösung eine selbständige Politik.“
Diese selbständige Politik bestand bis zum 4.11. auch darin, die
Regierung Nagy unter Druck zu setzen. Die Entscheidung zum Austritt aus
dem Warschauer Pakt und die Neutralitätserklärung der Regierung Nagy
vom 1.11., sind ohne den massiven Druck der Arbeiterräte nicht
verstehbar. Bereits am 25. 10. hatte sich eine Arbeiterdelegation aus
dem Bezirk Borsod bei Imre Nagy eingefunden. Symptomatisch für die
Haltung der Arbeiterräte der neuen Regierung gegenüber mag die
Erklärung vom 26.10. gelten, die das Präsidium des Arbeiterrates von
Groß-Miskolc abgab:
„…Das Komitee des Arbeiterats von Groß-Miskolc und das Parteikomitee
haben, unabhängig von der Antwort des Genossen Imre Nagy, auf der
Grundlage der Resolution des werktätigen Volkes … beschlossen, die
von ihnen eingebrachten Forderungen so lange aufrechtzuerhalten, bis
diese in ihren wesentlichen Punkten erfüllt sind.“ Diese Forderungen
besagen: Unverzüglicher Abzug der sowjetischen Truppen aus Ungarn, eine
neue ungarische Regierung, Streikrecht, Amnestie für die Teilnehmer des
Aufstandes. „Solange diese Forderungen nicht erfüllt sind, wird die
Bevölkerung des Regierungsbezirks Borsods sowie von Groß-Miskolc
streiken,…“
Einen Tag später verkündet Sender Miskolc:
„Der Arbeiterrat des Regierungsbezirks Borsod und der Stadt Miskolc
teilt mit, daß er die Bildung der neuen Regierung mit Freude begrüßt,
den Streik jedoch fortsetzen wird, >bis unsere Forderungen, vor
allem die nach dem Abzug der sowjetischen Truppen, erfüllt sind. Der
Arbeiterrat vertraut darauf, daß ihr den Streik diszipliniert führt.
Haltet aus! Der Sieg ist nahe!“
Eine Analyse der über die Rundfunkanstalten verbreiteten Forderungen
ergibt, daß sich ein Drittel von ihnen mit der nationalen
Unabhängigkeit beschäftigten.
Die zweite Intervention der Sowjets unterbrach die Entfaltung der Räte,
das Streben nach Arbeiterselbstverwaltung (eine kollektive Form der
Selbstbestimmung, welche die individuelle ergänzt, bzw. sie erst
ermöglicht). Aber sie konnte die Rätebewegung nicht sofort unterbinden
und gab ihr stattdessen einen neuen Impuls.
7. Die Arbeiterräte nach dem 4. November
Der militärische Widerstand, der den russischen Truppen entgegen
gebracht wurde, zeigte sich am heftigsten dort, wo sich die
Arbeiterräte ihre territoriale Verfassung schon vor dem 4. 11. gegeben
hatten und die Organisation der Arbeiteräte am weitesten gediehen war.
Gerade an diesem Aspekt wird die zentrale Stellung deutlich, die die
Arbeiterräte für den Ablauf der ungarischen Revolution hatten.
Zum Beispiel Dunapentele, ehemals Stzálinváros, ein herausragendes
Produkt stalinistischer Industriepolitik, das mit 32000 Einwohner zu
den großen Zentren der ungarischen Schwerindustrie zählte. Am 7.
November verweigerten die Arbeiter, die Waffen niederzulegen und
antworteten auf ein Ultimatum der russischen Invasoren:
„Dunapentele ist die erste und führende sozialistische Stadt Ungarns.
Die Mehrzahl ihrer Einwohner sind Arbeiter und die Macht liegt in ihren
Händen. Nach der siegreichen Revolution vom 23. Oktober haben die
Arbeiter den Nationalrat der Stadt Dunapentele gewählt und die
Bevölkerung hat sich bewaffnet. Alle Betriebe und die Wohnhäuser
unserer Stadt sind von uns selbst erbaut worden. Die Arbeiterschaft
sorgt für die Ordnung in der Stadt und wird sie sowohl gegen
faschistische Übergriffe als auch gegen die sowjetische Armee zu
verteidigen wissen. Die Mehrzahl der Werke sind in Betrieb. In unserer
Stadt gibt es weder Konterrevolutionäre noch Faschisten. Wir wollen mit
der Sowjetunion in Frieden leben, doch soll sie sich in unsere inneren
Angelegeheiten nicht einmischen. Wir schlagen vor, daß weitere
Verhandlungen in einer neutralen Zone geführt werden.“
Aber die Armeeführung igonierierte das Angebot und „sowjetische“ Panzerkolonnen eröffneten das Feuer.
8. Der Großbudapester Arbeiterrat
Das Faszinierende und Großartige der ungarischen Revolution findet sich
in ihrer Rätebewegung, die den Eindruck erwecke, als wolle sie sich
erst nach ihrer militärischen Niederlage und unter der Präsenz der
russischen Armee richtig entfalten.
Wenige Tage nach der militärischen Niederlage wollten die Arbeiter eine
Gegenmacht zur Kádárregierung in Form eines Arbeiterrates von
Gesamtbudapest schaffen. Am 13. 11. wollte man sich in Neupest treffen,
als das Gerücht durch Budapest ging, dort seien einige Delegierte der
Arbeiterräte verhaftet worden. Deshalb begaben sich die
Arbeitervertreter zur Versammlung der Budapester Arbeiterräte nicht ins
Rathaus von Neupest, sondern auf das Gelände der Lampenfabrik, in der
sich der erste Arbeiterrat gegründet hatte. Dort eingefunden, vermißten
sie allerdings die Delegierten einiger großer Fabriken, so daß man die
konstituierende Sitzung für den zentralen Arbeiterrat von Großbudapest
auf den nächsten Tag verschob. Man machte aus dem Dogma der Demokratie
eine Waffe gegen die Marionettenregierung Rußlands, gegen die Regierung
János Kádár. Nur mit der größtmöglichen Legitimität wollte man ihr
gegenübertreten. Hier die einzig legitime Vertretung des ungarischen
Volkes, dort die Vertretung der Interessen des russischen Imperialismus.
Auf der Gründungsversammlung des zentralen Arbeiterrates waren ca.
400-500 Personen anwesend, nicht alle waren Delegierte. Auffallend war
die große Repräsentation der jüngeren Arbeiter und daß die älteren fast
durchweg Veteranen der ungarischen Arbeiterbewegung waren. Zum Teil
hatten sie noch an der Räterepublik 1919 teilgenommen.
9. Doppelherrschaft
„Der zentrale Arbeiterrat entwickelte sich zur konkurrierenden Gewalt
neben der Regierung. Ungarn befand sich in diesen Novembertagen in dem
klassischen Zustand einer Doppelherrschaft.“
Worin besteht die Doppelherrschaft?
„Darin, daß sich neben der Provisorischen Regierung, der Regierung der
Bourgeoisie, eine noch schwache, erst in Keimform vorhandene, aber
dennoch unzweifelhaft wirklich existierende und erstarkende andere
Regierung herausgebildet hat: die Sowjets der Arbeiter- und
Soldatendeputierten“, schrieb Lenin.
Aber einen Unterschied zu Ungarn müssen wir hervorheben. Erinnern wir
uns: Nach dem 23. Oktober war der alte Staatsapparat und die
kommunistische Partei wie ein Kartenhaus zusammengefallen. Auf den
Ruinen versuchte Nagy einen neuen Staatsapparat aufzubauen, mit einer
reformierten kommunistischen Partei zwar, ohne Geheimdienst und mit
einer Bürokratie, die gesäubert von den harten Stalinisten sein sollte,
aber im Wesen doch ähnlich einem klassischen Staatsapparat. Ihm
gegenüber standen die Arbeiterräte (russisch: Sowjets), die, außerhalb
seines unmittelbaren Einflußbereiches, namentlich in den Provinzen alle
Gewalt innehatten. Wollte er den falschen Sowjets, den Vertretern der
russischen Interessen in Ungarn, gegenüber seine Autorität
demonstrieren, mußte er das Vertrauen der ungarischen Arbeiterräte
gewinnen, da er ihnen gegenüber über keine staatliche Gewalt verfügte.
Darum müßte man, will man sich des Leninschen Begriffs der
Doppelherrschaft bedienen, auch für die Zeit vor dem 4.11. von einer
Doppelherrschaft sprechen, wenngleich mit der Einschränkung, daß es ein
zentrales Organ, das diese zweite Gewalt Nagy gegenüber verkörperte,
nicht gab. Der zentrale Budapester Arbeiterrat war noch nicht
konstituiert. Es handelte sich eher um eine unklare, noch nicht
deutlich gewordene, Doppelherrschaft.
„Wie ist die Regierung klassenmäßig zusammengesetzt? Aus dem
Proletariat und der …Bauernschaft. Sie ist eine revolutionäre
Diktatur, d.h. eine Macht, die sich unmittelbar auf die revolutionäre
Machtergreifung stützt, auf die unmittelbare Initiative der Volksmassen
von unten, und nicht auf ein von einer zentralisierten Staatsmacht
erlassenes Gesetz. Sie ist eine Macht von ganz anderer Art als die in
der parlamentarischen bürgerlich-demokratischen Republik des bisher
allgemein üblichen, in den fortschrittlichen Ländern Europas und
Amerikas herrschenden Typus“ (und der Sowjetunion hätte Lenin heute
hinzugefügt).
Definieren wir Stalinismus als die Ausbeutung und Versklavung der
arbeitenden Klasse im Namen des Sozialismus. Hier die ungarischen
Arbeiterinnen und Arbeiter, organisiert in ihren Räten. dort die
herrschenden Klasse Ungarns und die sie stützende großrussische,
bürokratische Staatsklasse. Die Rätebewegung Ungarns, welche aus dem
Volksaufstand eine sozialistische Revolution machte, war unweigerlich
verbunden mit dem Kampf um nationale Unabhängigkeit, mit dem Einklagen
des Rechts auf nationale Selbstbestimmung, mit der Einforderung eines
Prinzips Leninscher Außenpolitik. Das Leben der Revolution hing an der
Existenz der Arbeiterräte.
Fortsetzung – siehe 2. Teil
17-10-2006, 08:35:00 |Stefan Junker